Die frühen Urwale Indopakistans

von Johannes Albers | cetacea.de | Essen | 25. Juli 2010

Frühe Protocetidae: Artiocetus und Rodhocetus

Etwas später als Ambulocetus, nämlich vor rund 47,5 Millionen Jahren, findet sich in Pakistan die GattungArtiocetus. Entdeckt wurde sie im Jahre 2000 von der Gingerich-Gruppe, die im September 2001 das partielle Skelett des Artiocetus clavis bekannt machte (3): Zuerst fand man Fußknochen an der Erdoberfläche, dann weitere Teile, bis man auf Becken und Lendenwirbel stieß. Die Ausgrabung arbeitete sich den Körper entlang nach vorn, bis der Schädel zu Tage trat, dessen äußere Nasenöffnungen noch wie bei einem Landtier angelegt sind. Das Lebendgewicht dieses Wals wird auf 420 Kilogramm geschätzt. Systematisch gilt er als früher Vertreter der Familie Protocetidae.

Die Knochen der Hinterfüße zeigen Merkmale wie bei Artiodactylen (Paarhufern). Daher drückt der GattungsnameArtiocetus die Verbindung zwischen Paarhufern und Cetaceen aus. Der Speziesname clavis (Schlüssel) deutet nicht nur auf die Schlüsselstellung des Tieres hin, sondern auch auf den Erhalt eines rudimentären Schlüsselbeins. Heute pflegen weder Paarhufer noch Waltiere ein Schlüsselbein zu haben, wenn es auch in Einzelfällen erhalten bleiben kann.(26) Es findet sich aber bei den urtümlichsten Paarhufern des Eozän.(27) Mit der Ableitung der Wale von den Paarhufern nimmt Gingerich Abschied von seiner eigenen, früheren Anschauung einer Abstammung der Cetaceen von Mesonychiern.(1728) Dazu führte ihn neben Artiocetus auch ein weiterer Walfund aus den gleichen Schichten, den er in derselben Arbeit publizierte.(3) Es handelt sich dabei um eine neue Art der Gattung Rodhocetus aus der Familie Protocetidae. Die Gattung als solche ist nicht neu, wie es der GEO-Artikel (10) suggeriert:

Die Gattung Rodhocetus gründet sich auf ein Skelett, das Xiaoyuan Zhou im Dezember 1992 in der pakistanischen Punjab-Provinz fand und mit Gingerich und weiteren Kollegen als Rodhocetus kasrani beschrieb.(29) Der Speziesname, heute kasranii geschrieben (49), bezieht sich auf einen Volksstamm der Fundgegend. Zu dieser Form stellte man auch bezahnte Unterkieferknochen, die man bereits 1981 geborgen hatte. Das Tier war nicht mehr so küstengebunden wie Ambulocetus, sondern lag aus tieferen Meeresbereichen vor.

Ein fortschrittliches Merkmal war die Verkürzung des Halses. Unverschmolzene Kreuzbeinwirbel ließen auf den Schwimmstil moderner Wale schließen. Daher mutmaßte man, dass der Schwanz bereits eine breite Fluke trug. Doch die meisten Schwanzwirbel fehlten. Aus dem kurzen Oberschenkel schloss man, dass die Hinterbeine bereits stark verkürzt seien. Doch außer dem Femur war nichts davon erhalten. Auch die Vorderextremitäten fehlten. Doch unter Annahme einer Fluke und einer deutlichen Rückbildung der Hinterbeine glaubte man, dass auch die Hände“ schon stark zu Flippern umgeformt wären.

Eine genaue Analyse der vorhandenen Wirbel führte jedoch zu der Einsicht, dass eine etwaige Fluke nur schwach entwickelt gewesen sein konnte.(30) Der neue Rodhocetus-Fund von 2000 veränderte das Bild auch in anderer Hinsicht:
Dieser Rodhocetus balochistanensis hat zwar auch einen kurzen Oberschenkel, trotzdem enden die Beine in geradezu riesigen, vierzehigen Hinterfüßen. Damit war das Tier an Land ein Sohlengänger. Mit den fünfzehigen Vorderfüßen war es hingegen ein Zehengänger. Dabei lagerte das Gewicht auf den drei mittleren Zehen, die mit Hufen bestückt waren. Die Symmetrieachse der Hand läuft durch den mittleren Zeh. Das widerspricht zwar dem nominellen Begriff des Paarhufers (im Unterschied zum Unpaarhufer), doch die Evolutionsforschung zeigt, dass dieselben Verhältnisse bei den urtümlichsten Artiodactylen des frühen Eozän (Diacodexis) und bei Kohlentierartigen (Anthracotherioidea) vorliegen (27), die als mögliche Flusspferd-Vorfahren und nahe Wal-Verwandte gehandelt werden.

Für die Vorder- und Hinterfüße des Rodhocetus nimmt man Schwimmhäute an. Zu einem möglichen Paddeln im Wasser traten Schwanzbewegungen. Da landlebende Huftiere zumeist relativ kurze Schwänze haben, musste der Schwanz der Cetaceen oder ihrer direkten Vorläufer zunächst in der Länge wachsen, womöglich um im Wasser stabilisierende Ausgleichsbewegungen auszuführen. Dann erst konnte er zum Antriebsorgan werden.(45) Schwanzbewegungen mindestens zur Stabilisierung spielten schon bei den frühen Pakicetidae eine Rolle.(63)

Das Lebendgewicht des Rodhocetus balochistanensis wird auf 450 Kilogramm geschätzt, das des geologisch etwas jüngerenRodhocetus kasranii von 1992 auf 590 Kilogramm.(3)

Indocetus und die Remingtonocetidae

Der Schädel eines Remingtonocetiden von oben, von der Seite und von unten. Wale dieser Familie scheinen sich auf relativ kleine Beutetiere spezialisiert zu haben. Die Backenzähne erinnern bereits an höher entwickelte Urwale.(41)
Bildquelle: Thewissen

Bei der Untersuchung des Rodhocetus kasranii wurde sein Skelett mit verschiedenen anderen Urwalfunden verglichen. Darunter war eine Gruppierung fossiler Fundstücke, die man damals der Spezies Indocetus ramani zuordnete.(29) Diese Art war aus Indien bekannt. Aber der vermeintlicheIndocetus-Vergleichsschädel in der Rodhocetus-Untersuchung stammte aus Pakistan und entpuppte sich im Nachhinein als ein anderes Exemplar von Rodhocetus kasranii.(3132) Wegen ihrer ähnlichen Schädel hat Mark Uhen 1999Indocetus und Rodhocetus zu einer gemeinsamen Gruppe innerhalb der Protocetidae zusammengefasst.(33) VonIndocetus liegen auch natürliche Schädelausgüsse vor.(34) Bei Thewissen wird erwogen, ob beide Gattungen vielleicht tatsächlich synonym sind. (46)

Alle Funde aber, die es vermeintlich von Indocetus aus dem Rumpf- und Extremitätenbereich gab, wurden Mitte der 90er Jahre einer völlig anderen Urwalgattung zugeschrieben:Remingtonocetus. Das ist die Nominatgattung der Familie Remingtonocetidae. Die wurde 1986 eingerichtet, lebte vor 49 bis 43 Millionen Jahren in Pakistan und im Westen Indiens (etwa dort, wo heute der nördliche Wendekreis liegt), und stellt einen erloschenen Seitenzweig in der Evolution der Wale dar.(35) Die Schnauzen sind ungewöhnlich schmal und lang nach vorn ausgezogen. Dazu passt, dass auch die Halswirbel recht lang sind, die bei heutigen Walen eine starke Verkürzung erfahren haben. Die Augen erscheinen z.T. sehr klein und sind bei manchen Gattungen nach vorn gerichtet. Weit voneinander entfernt liegende Ohren begünstigen ein gutes Richtungshören. Dem steht entgegen, dass die Ohren noch sehr unvollkommen gegen Unterwasserschwingungen der Schädelbasis isoliert sind. So zeigt das Gehör einen interessanten Zwischenstand zwischen Landsäugern und heutigen Walen.(47) Die Hinterbeine verbinden sich mit einem Kreuz, das noch zum Landgang befähigte.

Eine Frühform dieser Familie, im Alter vergleichbar mit späten Pakicetidae und den Ambulocetidae, ist der 2000 beschriebene Attockicetus aus Pakistan, der noch sehr ursprüngliche Zahnmerkmale besitzt.(58Attockicetus praecursor fraß zwar Meerestiere, war zugleich aber noch von der Aufnahme von Süßwasser abhängig.(59) Ebenfalls aus Pakistan kommen die größeren Arten Dalanistes ahmedi, im Alter mit Rodhocetus kasranii vergleichbar, undRemingtonocetus domandaensis. Aus Pakistan und Indien kennt man Remingtonocetus harudiensis. Dabei fasst man die Gattungen Remingtonocetus und Dalanistes zu einer Unterfamilie Remingtonocetinae zusammen. Ihr gegenüber steht die Unterfamilie Andrewsiphiinae, bestehend aus dem indischen Kutchicetus minimus und Andrewsiphius sloani aus Indien und Pakistan. Kutchicetus wurde 2000 als ein Wal beschrieben, der nur die Größe eines Otters erreichte.(36) Gingerich hielt ihn jahrelang für ein Synonym vonAndrewsiphius sloani und wollte kein eigenes Taxon für ihn anerkennen.(45) Doch 2009 zeigten Thewissen und Bajpai, dass es sich trotz ähnlicher Schädel um zwei deutlich unterschiedene Formen handelt.(60)

Lebensbild von Kutchicetus minimus. Hände und Füße sind nicht sichtbar, da ihre Größe unbekannt ist. Illustration von Carl Buell.
Bildquelle:http://www.neoucom.edu/Depts/Anat/Remi.html.

Die Andrewsiphiinae hatten lange, abgeflachte Schwänze, aber keine breite Fluke. Es scheint, dass im Vergleich dazu der Schwanz bei Remingtonocetus kürzer und weniger muskulös war. Die Wirbelsäule ähnelt bei Kutchicetus, wie auch bei Ambulocetus, der eines Otters und dürfte sich entsprechend bewegt haben. Bei den Auf- und Abbiegungen gab es nicht nur einen, sondern zwei verschiedene Gipfelpunkte der Auslenkung: einen im Lendenbereich und einen im Schwanz. Ein solches Bewegungsmuster (bimodale Undulation) zeigt auch der Gavial, der ebenfalls eine besonders lange, schmale Schnauze trägt.

Langschnauzige Schwimmer wie Indocetus und die Remingtonocetidae müssen aus hydrodynamischen Gründen ihre Köpfe im Einklang mit dem Rumpf bewegen. Darin liegt wohl auch die Ursache für eine nun plötzlich aufkommende Verkleinerung der Bogengänge im Innenohr, die als Gleichgewichtsorgane dienen: So wird ein reflexhaftes Geraderichten des Kopfes unterbunden, das den Wal bei seinen Schwimmbewegungen bremsen würde.(37)

Versuchsweise als Kutchicetus minimus wurden fossile Walzähne aus einem indischen Braunkohlefeld bestimmt.(50) Das passt zu anderen Hinweisen darauf, dass der bevorzugte Lebensraum der Andrewsiphiinae Küstenzonen mit Sumpf- und Marschlandschaften waren. Weniger spezialisiert zeigten sich in dieser Hinsicht die Remingtonocetinae.