Der Zahnwal in der Tabakstadt – Eosqualodon und seine Evolutionsstufe

von Johannes Albers | cetacea.de | Essen | 16. September 2012

Der Wal bewegt sich! Die Schnauze zeigt ein leichtes Wippen, als sich unter meinen Schritten der Holzboden knarrend biegt. In der oberen Stube eines alten Bauernhauses nähere ich mich einem der größten Schätze deutscher Wal-Paläontologie: dem Zahnwalschädel aus dem Doberg bei Bünde in Westfalen.

Er wurde berühmt als der besterhaltene fossile Walschädel auf der Nordhalbkugel. Zum Schädel mit Unterkiefer gehören auch einige Wirbel von Hals, Rumpf und Schwanz.

Der Schädel des Eosqualodon langewieschei in Bünde gilt als der besterhaltene fossile Walschädel der Nordhalbkugel. Die Schnauze ist freilich in mehrere Teile zerbrochen. Zu dem Fund gehören auch einige Wirbel, die ersten beiden Halswirbel sitzen in ihrer natürlichen Position.
© Landesbildstelle Westfalen

So war es im Sommer 1999. Inzwischen ist die Bauernhaus-Romantik für den Wal vorbei: Nebenan war bereits das neue Dobergmuseum aus viel Glas und Beton „teileröffnet“ und wartete darauf, den Wal und andere Versteinerungen in seinem Untergeschoss aufzunehmen. Schon huschte der alte Zahnwal als computeranimierte Lichtprojektion über die Wände des Neubaus. Und der Presse war indirekt zu entnehmen, dass es mit dem freien Eintritt bald vorbei sein würde. So war es in vieler Hinsicht eine Begegnung zwischen den Zeiten, als mich im alten „Doberg-Saal“ auf Striediecks Hof in Bünde der neue Museumsleiter Michael Strauß begrüßte.

Unter uns im Erdgeschoss war das Deutsche Tabak- und Zigarrenmuseum untergebracht. Das Prunkstück darin und einst das Aushängeschild Bündes: die größte Zigarre der Welt – 1, 60 Meter lang. Schließlich ist Bünde, nördlich von Bielefeld gelegen, traditionell als Tabakstadt bekannt. Die Zigarrenfabriken verschiedener Firmen prägen das Stadtbild.

Südöstlich von Bünde liegt der Doberg. Er enthält alte Meeresablagerungen aus der gesamten Epoche des Oligozän, das ist die Zeit vor 37 bis etwa 23 Millionen Jahren. Unter den zahlreichen Fossilien des Dobergs ist neben dem Zahnwal vor allem das Skelett einer Seekuh hervorzuheben. Es leistet dem Wal im Museum Gesellschaft. Der Wal ist etwa 27 – 28 Millionen Jahre alt, die Seekuh vielleicht 2 Millionen Jahre jünger. Beide Meeressäuger lebten in einem warmen, flachen Randmeer: der „Ur-Nordsee“. Heute zeigt das Dobergmuseum die Fossilien beider Tiere auf seinen Internetseiten (museum.buende.de). Übrigens rechnete man im 19. Jahrhundert die Seekühe noch mit zu den Cetaceen.

Der Walschädel ist 93 Zentimeter lang und lässt auf ein Tier schließen, das 5 – 7 Meter gemessen hat. Es hatte einen voll beweglichen Hals, anders als viele heutige Wale. Der Hirnschädel erinnert in seitlicher Ansicht an einen leicht gestreckten Kasten, ist also noch nicht so sehr zusammengestaucht wie bei heutigen Formen. Die Schnauze ist weit nach vorn ausgezogen und trägt über 60 Zähne. Zwei von ihnen sind an der Schnauzenspitze wie Stoßzähne waagerecht nach vorn gerichtet. Man nimmt an, damit habe der Wal Nahrungstiere am Meeresboden aufgestöbert. Die hinteren Backenzähne erinnern an Haie: Dreieckig zugespitzte Kronen tragen auf ihren flachen Schneiden vorn und hinten deutliche Nebenspitzen. Der Wal gehört zur Familie der „Haizähner“, zu den Squalodontidae. Anscheinend nutzte er eine vielseitige Nahrung und ähnelte im Jagdverhalten nicht nur Delphinen, sondern auch Belugas.

Geborgen wurde das Fossil im Jahre 1911. Als Finder gilt der Bünder Gymnasialprofessor Friedrich Langewiesche, nach dem das Tier Squalodon langewieschei genannt wurde. Er war durch einen Schüler zum Suchen von Doberg-Fossilien angeregt worden, die er im Gymnasium von Bünde sammelte. Im Ersten Weltkrieg wanderte die Sammlung auf den Dachboden der Schule, wo die Stadt nach Kriegsende ein „Steinzimmer“ einrichtete, eine Art schuleigenes Museum. In den 30er Jahren entstand ein „richtiges Museum“ auf Striediecks Hof. Friedrich Langewiesche leitete es bis in die 50er Jahre. Dann trat er im Alter von 83 Jahren in den Ruhestand. Heute ist in Bünde auch eine Straße nach ihm benannt.