Bartenwale mit Zähnen

von Johannes Albers | cetacea.de | Essen | 7. April 2013

Die Familie Aetiocetidae

1980 stürzte sich der Fossiliensammler DOUGLAS RALPH EMLONG im Alter von 38 Jahren von einer Klippe in den Tod. 1966 hatte er einen Walschädel aus dem späten Oligozän Oregons (USA) beschrieben. Die Gesamtgestalt des Schädels ergab in der Aufsicht ein spitzes Dreieck, freilich waren auf der rechten Seite die Fortsätze von Stirn- und Schuppenbein weggebrochen. EMLONG hielt das Tier für einen Urwal auf dem Weg hin zu Bartenwalen, nannte es Aetiocetus cotylalveus und richtete dafür eine neue Familie Aetiocetidae ein. Der Name bedeutet soviel wie ursprüngliche Wale“. Heute erkennt man darin bezahnte Mysticeti, die in ihrer Körpergröße dem Janjucetus vergleichbar waren.

Schädel von Aetiocetus cotylalveus, ergänzt. Blick auf die Oberseite

Ihre Nasenöffnungen lagen noch relativ weit vorn. Die Unterkieferknochen waren bereits gegeneinander beweglich, nicht aber die Elemente des Oberkiefers. Die waltypischen Knochenüberschiebungen am Schädel (telescoping) erreichten bei den Aetiocetidae bereits einen höheren Grad als bei den zahnlosen Bartenwalen ihrer Zeit, von denen die heutigen Bartenwale hergeleitet werden müssen. Insofern waren die Aetiocetidae Spitzenprodukte des Oligozän.

Die Frage nach dem Besitz von Barten ist umstritten. Dafür plädieren 2008 THOMAS DEMÉRÉ und Kollegen aus Amerika mit Verweis auf Nährforamina und Gefäßabdrücke im Gaumen, ähnlich den Strukturen, die bei heutigen Tieren den Bartenapparat versorgen. Skeptisch äußern sich dagegen HIROTO ICHISHIMA und Kollegen in Japan, die 2006 noch auf der Linie der Amerikaner lagen: Die fossilen Strukturen könnten nach ontogenetischen Untersuchungen an heutigen Zwergwalen (Opfern des wissenschaftlichen Walfangs) auch eine andere Funktion gehabt haben und falsch interpretiert worden sein, da sie bei den breit angelegten Schnauzen der Aetiocetidae in eine ähnliche topographische Position geraten sind wie die Nährstrukturen für Barten heutiger Wale.

Die Familie Aetiocetidae erwies sich als sehr vielgestaltig, was die Frage aufwirft, ob sie wirklich eine natürliche Einheit bildet. Bereits 1968 beschrieb RUSSELL den besonders primitiven Chonecetus sookensis von der Vancouver-Insel in Kanada, den er für einen Archaeoceten hielt. LAWRENCE G. BARNES stellte ihn 1987 in die Familie Aetiocetidae. Derselben Gattung ordneten BARNES und FURUSAWA 1994 auch Chonecetus goedertorum zu, der schon stärker abgeleitet ist, aber immer noch die Zahnformel der landlebenden Vorfahren mit 11 Zähnen in jeder Reihe hat.

Dieser Wal stammt von der Olympic-Halbinsel im US-Bundesstaat Washington, wo unter Makah-Indianern ein Interesse an der Jagd auf Grauwale glimmt. Geborgen wurde er 1984 von den Fossiliensammlern JAMES (JIM) und GAIL GOEDERT, nach denen er benannt ist. Die beiden haben auch viele andere bedeutende Funde gemacht. Dabei klagte im Jahre 2000 JIM GOEDERT als unbezahlter Mitarbeiter des Burke-Museums in Seattle, dass dort nur so unzureichende Kapazitäten an Platz und Personal vorhanden sind, dass zahlreiche wichtige Funde wohl in Jahrzehnten noch nicht bearbeitet sein werden.

Damals ging Museumsdirektor KARL HUTTERER nach Santa Barbara, weil er sich in Seattle nicht mit seinen Forderungen nach Verbesserung der Situation durchsetzen konnte. Er beklagte auch, GOEDERT sei als Nicht-Akademiker im Museum zunächst nicht ernst genug genommen worden. So schaffte GOEDERT viele seiner Fossilien verbittert nach Kalifornien und begann eine fruchtbare Kooperation mit LAWRENCE BARNES vom Los Angeles County Museum of Natural History.

1994 gliederten BARNES und japanische Forscher die Aetiocetidae in Unterfamilien und gründeten dabei auf Chonecetus die urtümlichste Unterfamilie Chonecetinae. Nah verwandt mit Chonecetus scheint auch der japanische Ashorocetus eguchii, 1994 durch BARNES und KIMURA beschrieben und nach dem Ort Ashoro auf Japans Nordinsel Hokkaido benannt, der 2008 sein hundertjähriges Stadtjubiläum feierte. Doch ANNALISA BERTA und THOMAS DEMÉRÉ zweifelten 2005, ob in diesem Tier tatsächlich eine weitere Gattung der Aetiocetidae vorliegt.

Eine vermittelnde Position zwischen Chonecetus und Aetiocetus nimmt Morawanocetus yabukii ein, 1994 durch KIMURA und BARNES ebenfalls von Hokkaido beschrieben. Hier ist der Hirnschädel recht breit, aber die Längenausdehnung der Hirnhöhle verringert, was für Wale schon modern anmutet. Die Backenzähne erinnern dagegen mit ihren doppelten Wurzeln und dreieckigen Kronen samt Nebenspitzen immer noch an die Urwale. Auf diese Form gründeten BARNES und Kollegen die Unterfamilie Morawanocetinae. Zur Typusart tritt womöglich eine weitere, noch unbeschriebene.

Am weitesten entwickelt ist die Unterfamilie Aetiocetinae, wo die Backenzähne bereits vereinfacht sind: Sie bilden auf der Krone eine einfache Spitze mit nur noch kleiner Seitenzähnelung. Dazu haben sie nur noch eine einfache Wurzel. Neben der Typusart wurden mehrere weitere Aetiocetus-Arten identifiziert:

Als primitivste Art der Gattung stellten KIMURA und BARNES 1994 Aetiocetus tomitai von Hokkaido vor. Diese Art betrachteten BERTA und DEMÉRÉ 2005 aber nur als Synonym von A. cotylalveus. Gleiches galt für A. weltoni, den sie mittlerweile jedoch als eigene Art anerkennen. Der Holotyp dieser Art aus Oregon spielt eine wichtige Rolle in der Diskussion um die möglichen indirekten Hinweise auf Barten. Die letzte Art ist A. polydentatus von Hokkaido, 1994 durch HIROSHI SAWAMURA beschrieben. Hier bezweifelt 2005 ICHISHIMA die Gattungszugehörigkeit. Der Schädel ist 64 cm lang und hat, wie der Artname andeutet, eine leicht erhöhte Zahnzahl (bis zu 15 Zähne in einer Reihe), zeigt andererseits aber morphologische Gemeinsamkeiten mit zahnlosen Mysticeti.

Fossilien der Aetiocetidae haben sich an der amerikanischen Pazifikküste bis hinunter nach Niederkalifornien (Mexiko) gefunden. Von dort wurde 2001 eine Form beschrieben, die nach Gattung und Art nicht näher bestimmt ist. Merkwürdigerweise, und ohne genaueren Nachweis dafür, stellt NEVILLE PLEDGE 2005 in diese nordpazifische Familie auch eine neue Art aus dem frühen Oligozän Südaustraliens: Willungacetus aldingensis, benannt nach den Port Willunga Cliffs.

Auf der Atlantikseite der USA besitzt das Museum in Charleston (South Carolina) Belege für eine noch unbeschriebene Familie bezahnter Mysticeti: Ihre Zahnreihe enthält im Unterkiefer einen zusätzlichen, vierten Molaren, während der Oberkiefer drei trägt. Das ist oben und unten je einer mehr als bei fortgeschrittenen Urwalen (Basilosauridae).

Mindestens rudimentäre Zähne im Ober- und Unterkiefer besaß ein Wal aus dem oberen Oligozän Japans, über den YOSHIHIKO OKAZAKI 2008 berichtet. Er geht nach der Morphologie der Schnauze davon aus, dass der Wal Barten trug. Die große Zahl zweiköpfiger Rippen weist darauf hin, dass der Brustkorb ziemlich steif war. Demnach war der Wal noch nicht so gut an das Tieftauchen angepasst wie etwa heutige Furchenwale.

Zu den geologisch jüngsten bezahnten Bartenwalen gehört ein kalifornischer Fund von Januar 2000 aus dem Bereich der Schichtengrenze vom Oligozän zum Miozän. Diese Grenze ist erdgeschichtlich immerhin so bedeutend, dass sie in größerem Rahmen auch die Grenze zwischen dem Paläogen und dem Neogen bildet. Im Umfeld dieser Grenze verschwinden bezahnte Bartenwale aus der fossilen Überlieferung.