Ohne Zähne im Oligozän – Paläogene Chaeomysticeti und ihre Erforschung

von Johannes Albers | cetacea.de | Essen | 20. September 2016

Die Familie Cetotheriopsidae

In die Überfamilie Eomysticetoidea stellte man neben den Eomysticetidae noch eine weitere Familie, die Cetotheriopsidae. Ihre Vertreter wurden zuerst aus Europa bekannt, dann auch von South Carolina.

Abb. 4: Schädel von Cetotheriopsis lintianus. Ansicht von hinten. Die Schädeldecke des Hinterhauptes trägt einen längsgerichteten Knochengrat in einer tiefen Einsenkung, deren Ausgeprägtheit diese Art von anderen ihrer Familie unterscheidet. (OL 1999/27. Foto: Oberösterreichische Landesmuseen.)

Schon im Jahre 1849 fand man bei Linz in Österreich, wo im Oberoligozän eine Meeresküste verlief, den Hinterschädel des Cetotheriopsis lintianus (Abb. 4). Der wurde zunächst unter verschiedenen anderen Gattungsnamen geführt, und man schrieb ihm auch fälschlich Zahnmaterial aus dem gleichen Fundgebiet zu. 1871 erkannte Johann Friedrich von Brandt in dem Tier einen zahnlosen Bartenwal und brachte den heute gültigen Gattungsnamen auf. Dieser Art werden auch Linzer Wirbelfunde zugeordnet. Die Gesamtlänge des lebenden Tieres schätzt man auf 5 Meter. Angesichts der Urtümlichkeit der Art gründete Brandt darauf 1872 eine eigene Unterfamilie namens Cetotheriopsinae, die im Laufe der Forschungsgeschichte in unterschiedliche Bartenwalfamilien eingegliedert wurde. 2003 schließlich wurde sie durch Jonathan H. Geisler und Albert E. Sanders in den Rang einer eigenen Familie Cetotheriopsidae erhoben und in die Überfamilie Eomysticetoidea gestellt.

Lange Zeit galt der Linzer Cetotheriopsis als der einzige bekannte Bartenwal aus dem Paläogen der Nordhalbkugel. Dann kam der 3. Juni 1965: Auf die Schotterhalde einer Kiesgrube in Lank-Latum auf der linken Niederrhein-Seite wurden grobe Brocken gekippt. Unter ihnen entdeckte der Geologe Fritz von der Hocht ein versteinertes Stück Hinterschädel eines oligozänen Bartenwals. Das Fragment war keine 27 Zentimeter lang. Untersucht wurde es von dem Paläontologen Karlheinz Rothausen, der seine Studie darüber 1971 publizierte, bevor er 1972 seine lange ausgefüllte Professorenstelle in Mainz antrat. Hatte das österreichische Tier im Bereich der Paratethys gelebt, einem Nebenmeer des „Urmittelmeeres“ Tethys, so war der Wal von Lank-Latum ein Tier aus der damaligen Nordsee. Im Leben war es vielleicht 4,50 Meter lang, also etwas kleiner als der Bartenwal von Linz.

Abb. 5: Hinterschädel von Micromysticetus tobieni. Ansicht von oben. Gestrichelte Partien sind nicht erhalten, sondern theoretisch erschlossen. Die Pfeile weisen auf plateauartige Knochenabstufungen, die typisch für die Gattung Micromysticetus sind und bei der verwandten Gattung Cetotheriopsis nicht vorkommen. Sie bildeten daher ein Kriterium, die tobieni-Art von Cetotheriopsis nach Micromysticetus umzustellen. Zeichnung verändert nach Sanders und Barnes (2002 a).

Es handelte sich um eine neue Art. Rothausen ordnete sie der Linzer Gattung zu und nannte sie Cetotheriopsis tobieni, nach dem Mainzer Paläontologie-Professor Heinz Tobien. Zunächst befand sich das Fossil in der Privatsammlung Fritz von der Hochts, dann ging es an der Johannes-Gutenberg-Universität zu Mainz in die paläontologische Sammlung ein. Als aber zu Beginn des 21. Jahrhunderts in Mainz die Lehreinheit Paläontologie aufgelöst werden sollte, gab Professor Rothausen das Stück an seinen Finder zurück. So wurde das Typus- und einzige bekannte Exemplar einer fossilen Walart im Privathaus eines mittlerweile pensionierten Geologen im rheinländischen Kerpen untergebracht. 2002 wurde die Art, nach neuen Walfunden in Amerika, in die damals neue Gattung Micromysticetus umgestellt und heißt seitdem Micromysticetus tobieni (Abb. 5).

Die neue Gattung wurde von Sanders und Barnes, wie im Fall von Eomysticetus, für Funde aus South Carolina eingerichtet. Tatsächlich stammen sie aus der gleichen Gegend wie Eomysticetus, aber aus der älteren Ashley-Formation, die auf 30 Millionen Jahre datiert und von der Chandler-Bridge-Formation überlagert wird. Die Autoren beschrieben zwei Schädelfragmente als zwei Exemplare ein und derselben Art, die sie Micromysticetus rothauseninannten. Der Gattungsname unterstreicht die geringe Größe, die noch unter der des Wals von Lank-Latum liegt. Der Speziesname ehrt den deutschen Forscher, der – wie sich nun herausstellte – als Erster einen Wal aus dieser Gattung beschrieben hatte. Karlheinz Rothausen wurde 1928 in Düsseldorf geboren und lehrte vor Antritt seiner Mainzer Professorenstelle auch ab 1968 an der Universität Köln.

Beachtenswert ist das Vorkommen von Micromysticetusbeiderseits des Atlantiks. Den Holotyp von M. rothausenifand Vance McCollum im Wasserlauf des Chandler Bridge Creek bereits 1986. Daher konnten Sanders und Barnes schon 1991 das Vorhandensein eines Cetotheriopsis-ähnlichen Wals in Amerika vermelden. Von diesem Individuum liegen der Hinterschädel mit den Periotica und der zweite Halswirbel vor. Die letztgenannten Elemente zeigen noch Ähnlichkeiten mit Urwalen, während der Schädel bereits gewisse Ableitungen aufweist. So zeigt sich im Vergleich zu dem (jüngeren, aber im Schädel urtümlicheren) Eomysticetus eine Verkürzung der schmalen Schädelpartie zwischen den Schläfengruben. Den Paratyp, also das zweite Exemplar, fand Billy Palmer 1997 im Eagle Creek. Auch hierbei handelt es sich um einen Hirnschädel, der jedoch stark fragmentarisch ist und von einem weniger ausgewachsenen Tier stammt als der Holotyp. 2014 äußerten der amerikanische Doktorand Robert W. Boessenecker und sein neuseeländischer Doktorvater Robert Ewan Fordyce die Meinung, dass Micromysticetus rothausenimöglicherweise mit in die Familie Eomysticetidae zu stellen sei. Während die Forschung somit wieder neue Verschiebungen in der Systematik erwägt, lenken Fordyce und Boessenecker unseren Blick nach Neuseeland, denn auch dort gibt es wichtige Zeugnisse der frühen Evolution zahnloser Bartenwale. Deren Erforschung begann bereits in den 1930er Jahren.