Wal und Mensch

von | | | 15. April 1996

Titelseite TiHo Anzeiger mit Kupferstich Pottwalstrandung 1602
Vorlesungsreihe Wal und Mensch als Titelstory im TiHo-Anzeiger April 1996

Vorlesungsreihe mit Unterstützung der Verlage
Schlütersche Verlagsanstalt und M. & H. Schaper

von URSULA PLATH und HEIKE WEBER
erschienen im TiHo Anzeiger April 1996, 25. Jahrgang, Heft 2

Wale und Delphine sind für viele ein faszinierendes Thema, aber es gibt nur wenig Gelegenheit im Tiermedizinstudium mehr über sie zu erfahren. Das umfassende fachspezifische Wissen über alle Haussäugetiere nimmt so viel Raum in diesem Studium ein, daß für den umfangreichen Rest der Tierwelt leider nur wenig übrig bleibt.

Und obwohl doch ein großes Interesse daran besteht, tragen nur relativ wenige Veranstaltungen zu einer Horizonterweiterung in diesem Sinne bei. Von diesen wenigen ist allen das von der Tierärztlichen Hochschule organisierte Studium Generale bekannt, aber es gibt auch die inzwischen schon fast zur jährlichen Tradition gewordene und in Eigeninitiative organisierte Vorlesungsreihe „Wal und Mensch“. „WuM“ wurde 1992 von zwei besonders engagierten Tiermedizinern ins Leben gerufen und fand zu Beginn diesen Jahres in der alten Apotheke zum dritten Male statt. Die Veranstalter Arnim Andreae und Jan Herrmann, die schon seit Jahren auf dem Gebiet der Wale und Delphine aktiv sind, nutzten ihre engen Kontakte zu anderen Wissenschaftlern und luden sie zu Vorträgen über ihre Forschungsarbeiten an die Tierärztliche Hochschule ein.

In diesem Jahr berichteten insgesamt sechs Referenten, die zum Teil von weither angereist waren, aus den verschiedensten Bereichen der aktuellen Walforschung und veranschaulichten dieses mit faszinierenden Bildern. Ungefähr 80 Tiermedizin- und BiologiestudentInnen fanden sich jede Woche zu den einzelnen Vorträgen ein. Als Leitfaden für diese Vortragsreihe wurde eine kleine Broschüre zum Unkostenpreis von 1 DM angeboten, in der die Abstracts und weitere Literaturhinweise zu finden waren.

Den Einstieg der diesjährigen Veranstaltungsreihe machte der Bericht des Biologen Thomas Henningsen vom Zentrum für Marine Tropenökologie der Universität Bremen. Er referierte über den Einfluß des Menschen auf das Leben der Flußdelphine im Amazonas und gab einen Einblick in das faszinierende Leben eines Forschers im Regenwald. Das überraschende Ergebnis seiner einjährigen Untersuchung war, daß in dem von Menschen stark beeinflußten Gebieten wesentlich mehr Flußdelphine beobachtet werden konnten als in den naturbelassenen.. Da die Delphine für Indianer mehr einen mystischen denn kulinarischen Wert darstellen, werden sie von ihnen nicht getötet. Andere Nahrungskonkurrenten der Delphine wiederum werden vom Menschen bejagt und kommen somit in dieser Gegend seltener vor, was in dem Fall ein Glück für das Leben der Delphine bedeutet.

Der Biologe Dr. Roland Lick vom deutschen Kleinwalprojekt der Universität Kiel berichtete über den Parasitenbefall der in deutschen Gewässern vorkommenden Schweinswale und Weißschnauzendelphine. Vorwiegend Nematoden belästigen die Wale, und sie verbreiten sich vor allem in deren Lungen, Lebern oder Gehörsinus. Dr. Lick gab die erstaunliche Zahl von 600 Nematoden als durchschnittliche Befallsintensität eines erwachsenen Schweinswales an.

Der Beitrag des Biologen Thomas Luetkebohle von der Universität Kiel erörterte den Einfluß des Schiffverkehrs auf die Reaktionen von Großen Tümmlern in Schottland. Immer wieder wird die Frage gestellt, ob das Herumfahren mit geräuscheproduzierenden Booten eine Verhaltensänderung der Tiere bewirkt. Bei der Untersuchung stellte sich heraus, daß die Tümmler unter dem Einfluß von Schiffsverkehr signifikant länger tauchten, plötzlich die Richtung änderten oder einfach nicht mehr weiterschwammen. Allerdings ist eine objektive Beurteilung dieser Verhaltensänderungen als positive bzw. negative Reaktion auf den Schiffsverkehr nicht ohne weitere Untersuchungen möglich.

Über das Phänomen der häufigen Strandungen von Pottwalen an der Nordseeküste referierte der Tierarzt Arnim Andreae aus Hannover von der Andenes Cetacean Research Unit. Es gibt viele Theorien, die die bisher unbekannte Ursache für dieses schon seit Jahrhunderten bekannte rätselhafte Ereignis zu erklären versuchen. Unter anderem diskutierte Arnim Andreae eine besonders interessante Theorie, die einzelne Strandungsfälle an der deutschen Nordseeküste erklären könnte. Danach geraten Pottwale auf ihrer Wanderung vom Norden Norwegens hinunter in den Süden in einen tiefen Graben zwischen Großbritannien und Skandinavien. Dieser führt als Art Sackgasse direkt in die flach auslaufende Nordsee, die dann zur Falle für die auf der Jagd nach Cephalopoden in großer Tiefe tauchenden Pottwale wird. Bisher jedoch konnte für keine der vielen diskutierten Strandungstheorien ein wissenschaftlicher Beweis geliefert werden. Mit Hilfe von zahlreichen Übersichtsdias wurden die Zusammenhänge und Hintergründe der möglichen Ursachen verdeutlicht.. Beeindruckende Bilder von Sektionen einiger im letzten Jahr gestrandeter Tiere illustrierten den Vortrag .

Eine Übersicht über den Speiseplan der Wale und Delphine aus nordeuropäischen Gewässern stellte der Tierarzt Jan Herrmann aus Hannover von der Andenes Cetacean Research Unit dar. Wie auf einer Menükarte im Restaurant präsentierte er die vielfältigen Speisen der einzelnen Walarten. Einige der beeindruckend ausgefeilten Beutefangtechniken wurden an Hand von interessant gestalteten schematischen Dias erläutert. Viele Zuhörer überraschte die Tatsache, daß z.B. Orcas koordiniert in Gruppen Heringsschwärme jagen. Dabei umzingeln die einzelnen Gruppenmitglieder gezielt ihre Beute, treiben den Heringsschwarm immer enger zusammen und betäuben die Fische durch das Schlagen ihrer Fluken auf die Wasseroberfläche. Den Weg der Speisen durch das Innere der Wale, sowie die Besonderheiten der Verdauungsmorphologie von Walen und Delphinen im Vergleich zu den uns vertrauten Haussäugetierarten veranschaulichten graphische Dias und Bilder.

Den Abschluß der diesjährigen Vorlesungsreihe bildete der in englischer Sprache vorgetragene Beitrag der australischen Biologin Joline Lalime über die zeitliche Aktivitätsverteilung des Mutter-Kind- und „Fremdmutter“-verhaltens bei in Gefangenschaft gehaltenen Großen Tümmlern. Bei dieser Delphinart wird beobachtet, daß jüngere weibliche Tiere ohne eigenen Nachwuchs eine Art „Tantenverhalten“ an anderen Jungtieren ausüben, auch wenn keine verwandtschaftlichen Beziehungen bestehen. Sie erlernen somit das Mutterverhalten für ihr späteres Leben. Joline Lalime schilderte auch die möglichen Nachteile für die Jungtiere dieses auf den ersten Blick so sinnvoll erscheinenden Verhaltens. Es wird häufiger beobachtet, daß es zu Auseinandersetzungen zwischen der Mutter und der „Tante“ kommt, und das Jungtier in dem Augenblick „unbeaufsichtigt“ in der Natur von Haien angegriffen werden oder in Gefangenschaft beispielsweise gegen die Beckenwand stoßen kann.

Im Anschluß an diesen letzten Vortrag gab es noch einen aktuellen bilderreichen Einschub von Arnim Andreae und Jan Herrmann über den wenige Tage zuvor auf Norderney gestrandeten Pottwalbullen. Zusammen mit anderen Wissenschaftlern waren sie vor Ort an Untersuchungen des aus dem Eismeer geborgenen Walkadavers beteiligt. Ein dabei extrahierter Oberkieferzahn befindet sich nun Dank ihrer Initiative im Anatomischen Institut der Tierärztlichen Hochschule Hannover.

Der rituelle Abschluß dieser Veranstaltung wurde wie in jedem Jahr mit Wein und Salzgebäck gefeiert, wozu alle Anwesenden eingeladen waren. Zum ersten Mal unterstützten die Verlage Schlütersche Verlagsanstalt und M. & H. Schaper als Sponsoren die bisher von den Veranstaltern in eigener Finanzierung organisierte Vorlesungsreihe „Wal und Mensch“. Hoffentlich wird „WuM“ auch in Zukunft den TiHo-Alltag bereichern und durch zunehmende Bekanntheit weitere begeisterte Zuhörer finden.