Ohne Zähne im Oligozän – Paläogene Chaeomysticeti und ihre Erforschung

von Johannes Albers | cetacea.de | Essen | 20. September 2016

William B. Benham und Mauicetus parki

In Neuseeland geht es u.a. um die sogenannte „Mauicetus-Gruppe“. Bezüglich der Systematik und Taxonomie dieser Tiere bekundeten Oliver Hampe aus Berlin und Sven Baszio aus Bonn 2010 noch erheblichen Klärungsbedarf. Vielleicht lag es an der verwirrenden Informationslage, dass zur gleichen Zeit das Internet-Projekt „Palaeocritti“ in seiner Auflistung fossiler Bartenwale die ganze „Mauicetus-Gruppe“ noch völlig ausließ. Mittlerweile hat neue Forschung viel geleistet. Den aktuellen Kenntnisstand und verwirrende historische Angaben versteht man am besten, wenn man diese Wale im Zusammenhang mit ihrer Erforschungsgeschichte betrachtet. Dabei treten vor allem drei Männer hervor, die hier mit gewürdigt werden sollen: Benham, Marples und Fordyce, dessen Arbeit heute auch Unterstützung durch seine Doktoranden erfährt.

Abb. 6: Neuseeland mit der Universitätsstadt Dunedin in der Region Otago. Duntroon und das Tal des Flusses Waitaki bilden eine wichtige Fundgegend für Walfossilien. Kaikoura ist ein Zentrum des Whale Watching.

William Blaxland Benham (1860 – 1950) wurde in England geboren und studierte dort Zoologie, Botanik und Geologie, also die klassischen „drei Reiche der Natur“. 1898 trat er eine Professorenstelle an der Universität von Otago im neuseeländischen Dunedin (Abb. 6) an. Dabei erreichte er Neuseeland auf einem Schiff namens „Kaikoura“, benannt nach dem Ort, der heute das Mekka des neuseeländischen Whale Watching ist. Benhams Spezialgebiet waren zwar Würmer, doch schrieb er auch etliche Arbeiten über Kraken und über Wale. Neben fachlicher Tätigkeit ist er in vielen administrativen Bereichen aktiv gewesen und zum Ritter geschlagen geworden. 1936 trat Sir William in den „Unruhestand“; 1950 starb er im Alter von 90 Jahren.

Im Jahr seiner Emeritierung, 1936, referierte Benham vor dem Otago-Zweig der Royal Society of New Zealand über die fossilen Hinterschädel von zwei heimischen Walen. Ihre genaue Herkunft war unbekannt; sie gehörten zu den Beständen der Universität und des Museums von Otago. Ihr Steinmaterial ließ aber auf ein oberoligozänes Alter schließen.

Das größere der beiden Stücke maß vom Hinterrand des Schädels bis zur vorn liegenden Bruchkante 46 Zentimeter, das kleinere 32,5 Zentimeter. Offensichtlich waren diese Wale nur wenige Meter lang gewesen. Gut erkennbar war jeweils die Schädeldecke des Hinterhauptes. Auffallend erschienen Benham zudem die (vermeintlich) lang nach vorn ausgestreckten Scheitelbeine: Erheblich länger, als man sie bei heutigen Walen sieht, deuteten sie auf Urwale hin. Daher verglich Benham seine Studienobjekte vor allem mit Urwalarten aus Ägypten und ordnete sie der Familie Zeuglodontidae zu. Diese Familie, heute so nicht mehr geführt, war ein „Abfallkorb“ der Systematik: Sie nahm im Laufe der Zeit allerlei Formen auf, die man nicht besser einzuordnen wusste und die man heute auf die Unterordnungen der Ur-, Zahn- und Bartenwale verteilt.

Die Schnauzen von Benhams Walschädeln waren nicht erhalten. Aber unabhängig von den Schädeln lagen Benham Zähne aus neuseeländischen Steinbrüchen vor, wie sie zu urtümlichen Walen passen. Daher glaubte Benham, diese Zähne derselben Art zuordnen zu können wie die Schädel: Er stellte eine neue Gattung und Art Lophocephalus parkiauf, benannt nach dem emeritierten Geologie-Professor James Park, der bis kurz zuvor an der Universität von Otago gewirkt hatte. Der Gattungsname bedeutet etwa „Leistenkopf“ und bezieht sich auf einen längsgestreckten Knochengrat auf der Oberseite des Schädels. Die neue Art basierte auf dem größeren der beiden Schädel als Holotyp.

Gedruckt erschien Benhams Abhandlung zuerst im Juni 1937; schließlich stand sie im Band der „Transactions and Proceedings of the Royal Society of New Zealand“ für das Jahr 1938. In jenem Jahr 1938 aber hielt sich Benham in Europa auf und war derweil, ein halbes Jahrhundert vor der Einrichtung von E-Mails und Internet-Foren, abgeschnitten von der Korrespondenz, die zu Hause in Neuseeland mit der Post für ihn ankam. Wieder daheim, fand er einen Brief aus Amerika vor, in dem ein Zoologe ihm verdeutlichte, dass der Gattungsname Lophocephalus bereits mehrfach für verschiedene Tiere verwendet worden war, so für einen Käfer und für einen Fisch. Also musste Benham für seinen Wal einen anderen Namen suchen. Der erschien in der britischen Zeitschrift „Nature“ am 6. Mai 1939: Dort nannte Benham seinen Wal nun Mauicetus parki, nach einer mythischen Figur der neuseeländischen Maori. Dies ist bis heute der gültige Name.

Änderungen wurden aber auch in der Sachanschauung nötig: 1940 nahm wegen Mauicetus der berühmte amerikanische Wal-Paläontologe Remington Kellogg Kontakt zu Benham auf und leitete ihn zu einem neuen, genauen Hinsehen an. Nun erkannte Benham: Was er bei dem kleineren Schädel für Brüche im Fossilmaterial gehalten hatte, waren in Wirklichkeit die Grenzlinien zwischen Scheitelbein und Stirnbein. Die ließen sich jetzt mit Leichtigkeit auch auf dem größeren Holotyp ausmachen. Also erstreckten sich die Scheitelbeine nicht gar so weit nach vorn wie Benham gedacht hatte. Die Stirnbeine hatte er als solche nicht identifiziert gehabt. Nunmehr konnte er Kellogg darin folgen, dass die Schädel eher Ähnlichkeiten mit fossilen Bartenwalen aufwiesen als mit Urwalen. Benham erkannte, dass es sich tatsächlich um zahnlose Bartenwale handelte, und dass seine Zuordnung von Zähnen zu dieser Art völlig abwegig gewesen war.

Dieser Fall erinnert an die falsche Zuordnung von Zahnmaterial zu Cetotheriopsis lintianus. Zugleich ist er eine genaue Umkehrung des Patriocetus-Falles kurz vor dem Ersten Weltkrieg: Damals hatte der Österreicher Othenio Abel bei dem Linzer Wal Patriocetus ehrlichii tatsächliche Brüche im Schädelfossil für biologische Knochengrenzen gehalten und war zu dem falschen Schluss gelangt, der zahntragende Patriocetus sei ein Vorfahre der Bartenwale gewesen.

Kellogg hatte Mauicetus mit dem fossilen Bartenwal Aglaocetus verglichen, der damals zur Familie Cetotheriidae gerechnet wurde. Auch das war eine „Sammelfamilie“, der man über hundert Arten zugeschrieben hat. Der Name Cetotheriidae erschien lange Zeit fast gleichbedeutend mit urtümlichen Bartenwalen. Eine genauere Sortierung erfolgt in unseren Tagen. So hat die Dänin Mette Elstrup Steeman im Jahre 2007 Aglaocetus zur Typusgattung einer eigenen Familie Aglaocetidae gemacht, die aber bisher nicht allgemeine Anerkennung findet. Doch schon 1941 ging William Benham, dessen Aufmerksamkeit nun geschärft war, einen bemerkenswerten, wenn auch nur halben Schritt über seinen „Lehrmeister“ Kellogg hinaus, der in Mauicetus einen Cetotheriiden sah:

Die Langgestrecktheit nunmehr der Stirnbeine führte Benham zu folgender Überlegung: Bei Cetotheriidae (im alten, umfassenden Sinne) müssten vorn längst die Nasenbeine oder gar die Nasenöffnungen in Sicht kommen. Davon aber zeigten Benhams Schädel keine Spur. Demnach hatten sich die Nasenöffnungen noch nicht so weit nach hinten verlagert, wie es bei Cetotheriidae üblich ist, von heutigen Walen ganz zu schweigen. Benham begriff, dass Mauicetus eigentlich gar kein Cetotheriide war. Aber aus Scheu vor einer Autorität wie Kellogg und nach der Erfahrung, welche Fehler er selbst zuvor gemacht hatte, verzichtete Benham darauf, für Mauicetus eine neue, eigene Familie urtümlicher Mysticeti zu postulieren. Hätte er den Mut dazu besessen, dann wäre dies ein großer Schritt vorwärts in der Erforschung der Evolution der Bartenwale gewesen. Doch bei dem halben Schritt stehen bleibend, erschien seine neue Studie 1942, und Mauicetus rangierte in der Fachwelt weiterhin als Cetotheriide.

Desgleichen bemerkte Benham in seiner neuen Studie zutreffend, der zweite Schädel gehöre womöglich zu einer ganz anderen Art von Bartenwal als der erste und damit nicht zu Mauicetus parki. Aber er führte keinen neuen Namen dafür ein. So blieb das Stück mit einer doppelt unpassenden Beschriftung zurück: Bei dem ursprünglich auf dem Fossil aufgetragenen Namen Lophocephalus parkiwurde der Gattungsname durchgestrichen, und darüber wurde Mauicetus geschrieben. Heute ist man sich bewusst, dass es bei Fossilien oft viel Hin- und Hergeschiebe der Einordnung und der Namen gibt. Entsprechend ist mit solchen Benennungen auf dem Fossil selbst Vorsicht angebracht.

Tatsächlich zu Mauicetus parki stellte Robert Ewan Fordyce, heute der führende Wal-Paläontologe Neuseelands, 2005 ein neues Fossil. Außerdem hat er ein linkes Perioticum dieser Art freilegen können. Da die Ohrknochen bei Walen gute Merkmalsträger für die Unterscheidung verschiedener Gattungen und Arten sind, eröffnen sich durch diese Bearbeitung auch neue Möglichkeiten für weitere Untersuchungen und Vergleiche.

Mette Elstrup Steeman, die über fossile Bartenwale ihre Doktorarbeit schrieb, stellt Mauicetus parki 2007 an die evolutive Basis der Überfamilie Balaenopteroidea, in der sie ausgestorbene Familien wie die Aglaocetidae und die heute noch lebenden Furchenwale (Familie Balaenopteridae) mit Blauwal, Buckelwal etc. vereinigt. Als deren entfernter Vorfahre also darf Mauicetus parki gelten. Damit steht er heute abseits der (nach vielen Abtrennungen noch übrig gebliebenen jungtertiären Rest-) Cetotheriidae. Aber einer genauen Familieneinordnung enthält sich auch die Dänin noch 70 Jahre nach der Erstbeschreibung durch William B. Benham.