Knochenarbeit der besonderen Art

von Annemarie Heckmann | FR | Frankfurt | 19. Februar 2000

Für das Zoologische Museum der Universität Göttingen wurde ein 16 Meter langer Pottwal präpariert

von Annemarie Heckmann

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Dieser Artikel ist erschienen am 19.02.2000 in der Rubrik: Wissenschaft

Warum sie Ende 1998 vor der Küste von Eiderstedt in Nordfriesland strandeten, blieb ungeklärt. Für die drei riesigen Pottwale gab es keine Rettung mehr. Sie wurden im seichten Wasser vom eigenen Gewicht erdrückt. Ihr langsamer Tod hatte für Schlagzeilen gesorgt. Eines der mehr als 16 Meter langen einzigartigen Tiere wird ab diesem Sommer im Zoologischen Museum der Universität Göttingen als Skelett zu sehen sein – doch zuvor standen die Wissenschaftler und Präparatoren der Universität vor einer Knochenarbeit der ganz besonderen Art.

Schon am Strand war der etwa zwanzig Jahre alte Junggeselle aus mehreren Hundert Metern Entfernung zu erkennen. Ein grauer Fleischkoloss, zu dem die Touristen pilgerten. Um ihn vor Souvenirjägern zu schützen, wurde er sorgsam abgeschirmt. Wer fast zwei Jahre später nach dem rund 100 Einzelteile umfassenden Skelett des 16,70 Meter langen und einst 40 Tonnen schweren Zahnwals sucht, der wird an mehreren Stellen fündig.

Zähne im Weckglas

Etwa im Labor des Instituts für Zoologie und Anthropologie der Universität Göttingen. Dort sind noch einige der über zehn Zentimeter langen und mehr als zwei Daumen dicken Zähne des Wals – fein säuberlich numeriert – in unzähligen Weckgläsern und Plastikbehältern deponiert. Kleinteile nur, die darauf warten, wieder zu einem fertigen Ganzen zusammengefügt zu werden.

Monatelang drehte sich im Labor von Präparator Klaus-Dieter Bierwirth alles um den Wal – eine besondere Herausforderung kurz vor der Pensionierung. In einem Raum etwa dominierte über Wochen der Geruch von Silikon und Gips. Dort walzte beispielsweise Tomas Brandenburg mit einem handlichen Nudelholz einen Pappmascheeklumpen zu einem handtellergroßen Fladen. Damit kleidete er die Innenseite einer Form aus – ein Modell des Walpenis, von dem zuvor ein Abdruck genommen worden war. So wird erneut eine Replik des mannshohen Exemplars entstehen. Schon gebe es bereits mehrere Anfragen nach den Kopien, sagt Brandenburg. Das Interesse bei anderen wissenschaftlichen Instituten oder Sammlern sei groß.

Nur wenige Schritte entfernt ruht, auf mächtige Stahlböcke gestützt, der Abguss der Schwanzflosse. Nachgebildet in Silikon soll die so genannte Fluke mit mehr als zwei Metern Spannweite das Skelett in der Museumsausstellung komplettieren. Sie zu präparieren sei unmöglich, erklärt Bierwirth. Der Abguss sei der einzige Weg, sie zu erhalten. Keine Flosse gleicht bei diesen Tieren der des anderen – ein unverwechselbares Erkennungszeichen, im weiteren Sinn mit den menschlichen Gesichtszügen vergleichbar.

Für die Göttinger Präparatoren und Wissenschaftler war die Frage, wie der 40-Tonner zu konservieren sei, Neuland und Herausforderung zugleich – nicht nur wegen der absolut seltenen Gelegenheit, überhaupt an ein solches Tier zu kommen. Immer wieder stellten die riesigen Dimensionen die Beteiligten vor neue Hürden. Wie sollen etwa die riesigen und sehr schweren Rippen und Wirbelknochen entfettet werden. Dafür müssen diese mehrere Wochen in einer Seifenlauge bei konstanter Wärme liegen. In diesem Fall hilft nur Improvisationstalent weiter. Ein Beispiel dafür ist das eigens angefertigte Edelstahlbecken, das Rainer Willmann, Professor für Zoologie und Direktor des seinem Institut angegliederten Museums, aufstellen ließ. Eingepackt in knisternde Plastikfolien stand die „Riesenbadewanne“ im Garten des Instituts.

Wer die Folie entfernte, blickte in eine blubbernde, milchige Brühe, aus der einige Knochenspitzen herausragen. „Unser Vorwaschgang dauerte einige Wochen“, erklärt Willmann mit Humor. Die Wärme lieferte die Universitätsheizung, deren Rohrnetz kurzerhand bis in den Garten verlängert wurde. In den Frostnächten spendeten Tauchsieder die nötigen Extratemperaturen. Gewaschen wurde bei 50 Grad – und weil die Knochen nicht nur sauber, sondern fettfrei rein werden sollen – mit Persil. 750 Kilogramm von diesem klassischen Haushaltshelfer wurde allein auf die Bearbeitung der Wirbel- und Rippenknochen verwendet, der Schädelknochen verschlang nochmals mehrere Hundert Kilogramm. Und das ist nur die Feinarbeit. Denn die grobe Vorarbeit leisteten Menschen und die Bakterien in der städtischen Kläranlage von Göttingen.

Mit der Kettensäge am Werk

Willmann hatte den Koloss mit zwölf Mitarbeitern – Studierenden, Kollegen, befreundeten Naturschützern, seiner Frau und seinen Kindern – in einem Kraftakt eigenhändig am Strand bei eisigen Wintertemperaturen zerlegt, um das seltene Tier für die Wissenschaft und die Öffentlichkeit zu bewahren. Fast wie Seemannsgarn hören sich die Erinnerungen an, die sich um das lange Winterwochenende ranken, an dem das Team „seinen“ Wal zerlegte. Da ist einmal die Masse Fleisch, 40 Tonnen – umgerechnet 80 Pferde. Da sind die Kälte, die ungeheure körperliche Anstrengung, der Zeitdruck und der beißende Gestank.

Mit vor Ort war Dr. Jes Rust. Seine Erinnerungen lesen sich so: „Aus einigen Präparationsanleitungen, beispielsweise Moby Dick, ist natürlich bekannt, dass unbedingt scharfe Messer notwendig sind. Im Rückblick sei jedem, der einen Pottwal zerschneiden möchte, empfohlen, besonders auf die Größe der Griffe zu achten. Diese sind bei normalen Küchenmessern zu klein und zu glatt.“ Eine Kettensäge sei dagegen „zwar kein feines, aber dafür ein mitunter äußerst hilfreiches und zeitsparendes Präparationswerkzeug“.

Voller Überraschungen war auch der Weg von der Nordseeküste ins niedersächsische Göttingen. Lange wurde nach einer geeigneten Transportmöglichkeit gesucht. Sollte der Zoologe, der in einem kleinen Dorf mitten in Schleswig-Holstein wohnt, die dortigen Bauern und deren Trecker aktivieren? Dann hätte das Walskelett womöglich ein Zwischenlager in einer Reetdachscheune gefunden. Glücklicherweise bot ein Göttinger Fuhrunternehmer kostenlos seine Unterstützung an – um dann mit seinem Lastwagen auf dem Rückweg im Elbtunnel „hängenzubleiben“. Die Schwanzflosse des Wals hatte mit ihrer Abdeckplane über den Containerrand hinausgeragt und die Höhenkontrolle des Tunnels ausgelöst: Die Rückfahrt dauerte so einige Stunden länger.

Auch wenn manche der Mitarbeiter des Zoologischen Instituts über die „verrückte Idee, einen Wal zu präparieren“ nach den Worten von Rainer Willmann nur den Kopf geschüttelt haben, so seien sie mittlerweile stolz auf den „südlichsten Wal Deutschlands“. Schlicht als „Göttinger Wal“ getauft, wird er in einer umfangreichen Dauerausstellung im Zoologischen Museum unweit des Bahnhofs der Universitätsstadt präsentiert werden. Typisch Wal, zwingt auch dieser Wunsch zu größeren Begleitumständen. So musste ein Teil der Museumswand aufgestemmt werden, um den riesigen Schädelknochen mit einem Kran in die Ausstellungsräume heben zu können – Nervenkitzel für die Institutsmitarbeiter und den Bauunternehmer zugleich. Eine Panne und damit ein Zerstören des Knochens wären verheerend gewesen. Aber sie hatten Glück: Nun steht der Schädel im Museum auf einem Stahlgerüst gestützt und wartet darauf, wieder mit seinen restlichen Knochen vereint zu werden. Wenn nicht noch etwas Unvorhergesehenes dazwischenkommt, wird im Sommer Eröffnung sein.

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