Wale und Robben in der Ostsee – Meer und Museum, Band 23

von Jan Herrmann | Cetacea.de | Wittmund | 29. September 2013

Buchbesprechung von Jan Herrmann

Wale und Robben in der Ostsee. Meer und Museum Band 23.
Benke, Harald (Hrsg.) (2011):
Wale und Robben in der Ostsee
Meer und Museum, Schriftenreihe des Deutschen Meeresmuseums, Band 23
336 Seiten. Softcover.
Deutsches Meeresmuseum
Museum für Meereskunde und Fischerei • Aquarium
Katharinenberg 14-20, 18439 Stralsund
ISSN 0863-1131
Tel.: +49 (0) 3831 26 50 230
Internet:www.meeresmuseum.de.
Preis: 15 Euro.

Schon als Band 23 der Schriftenreihe Meer und Museum auf meinem Schreibtisch lag wusste ich, dass meine Rezensionszusage leichtfertig gegeben war. Dieser Band überragt schon physisch die anderen in meiner Bibliothek stehenden Stücke dieser Reihe um einiges. Nimmt man z.B. den in diesem Werk häufig zitierten Band 7 mit dem Beitrag von Gerhard Schulze „Wale an der Küste von Mecklenburg-Vorpommern“ zur Hand, wird einem das schnell deutlich: Hier haben wir es mit 64 Seiten bei einem Gewicht von gerade mal zwei Tafeln Schokolade zu tun. Der Band „Wale und Robben in der Ostsee“ hingegen versammelte 336 Seiten in fast 1,3 Kilogramm Gewicht und passte so gar nicht zu meinen zeitlichen Ressourcen um in adäquater Zeit eine Besprechung vorlegen zu können. So wurde dieser Band 23 zu einem treuen Begleiter auf meinen Bahnreisen der letzten zwölf Monate. Heute kann ich mit großer Überzeugung sagen, dass es sich gelohnt hat, mein Reisegepäck um dieses Kilogramm Meeressäugerkunde anzureichern.

Anregung zu diesem Band hatte der dänische MeeressäugerspezialistCarl Kinze gegeben, der nicht nur über gewaltige Kenntnisse über die Meeressäuger der Ostsee verfügt, sondern auch einen besonders guten Draht nach Stralsund hat. Carl Kinze hat als Co-Editor maßgeblich an der Zusammenstellung dieses Buches mitgewirkt und ist dazu noch an 5 Fachartikeln als Autor beteiligt.

Gerhard Schulze gewidmet. Meer und Museum Band 23, S. 3
Gerhard Schulze gewidmet.

Dieser Band ist Gerhard Schulze gewidmet. Gerhard Schulze war langjähriger stellvertretender Leiter des Meeresmuseums und ist den meisten deutschsprachigen Meeressäugerfreunden als Autor des Bandes „Schweinswale“ in der Reihe Neue Brehm Bücherei bekannt. Obwohl die NBB populär ausgerichtet ist, so ist dieser Band unter den in deutscher Sprache erschienenen Büchern über Wale von herausragender inhaltlicher Tiefe. Allerdings ist das 1996 in zweiter Auflage erschienene Buch mittlerweile in einigen Belangen überholt. Neue wissenschaftliche Techniken haben die tagtägliche Arbeit verändert und zu neuen Erkenntnissen geführt. Altes Wissen muss teilweise neu bewertet werden. Wie passend also, dass der Schweinswal mit acht Artikeln im Mittelpunkt des nun besprochenen Bandes steht. So wird das bekannteste Werk von Gerhard Schulze mit einer Publikation seiner alten Wirkungsstätte gelungen ergänzt und aktualisiert.

Eintauchen

Wale und Robben in der Ostsee. Meer und Museum Band 23, S. 74
Reichhaltig mit Farbbildern illustriert.

Ein klares Plus des Meer und Museum Bandes ist die sowohl ökologische als auch naturhistorische Einbettung der Artenvorstellungen. Nach den Geleitworten und einem Aufsatz zur Geschichte der Reihe „Meer und Museum“ eröffnet ein Beitrag über die Ostsee als Lebensraum für Meeressäugetiere das Kernthema. Die Besonderheiten der Ostsee (z.B. Brackwassermeer, Eisverhältnisse) werden anschaulich dargestellt. Dieser Text ist – wie der ganze Band insgesamt – reich und vierfarbig illustriert. Neben historischen Aufnahmen, glänzen gelungene Illustrationen und beeindruckende bildliche Dokumentationen. Bei der Beschreibung der Eisverhältnisse mit Nennung von Breitengrad und diversen Ortsnamen wäre dem Leser eine Karte aber sicher willkommen gewesen und hätte den Gang ans Buchregal zum Atlas ersparen können. Es sind zwar an anderer Stelle mehrfach Ostseekarten abgedruckt, doch sind dabei die Landmarken nur selten und spärlich benannt. Nicht alle Leser werden den Ostseeraum so gut kennen, wie die Autoren.

Im Folgebeitrag über die nacheiszeitliche Ausbreitungsgeschichte von Meeressäugern wird die relativ junge Geschichte der Ostsee erzählt. Danach geht es weiter mit der Vorstellung der Fischfauna, die für die Robben und Wale der Ostsee bedeutend ist. Hier wird bei einer Gegenüberstellung des hochgerechneten Nahrungsbedarfs der Meeressäuger mit den Fischfangerträgen der Anrainerstaaten erstmals auf den Konflikt mit der Fischerei hingewiesen.

Zahnwale

Die abenteuerlichen Funde von 16 verschiedenen Zahnwalarten in den letzten Jahrhunderten werden Art für Art und zum Teil Jahrzehnt für Jahrzehnt übersichtlich beschrieben. Dabei werden auch einige Namensverwirrungen alter Tage und falsche Artzuschreibungen aufgelöst. Diese hervorragend illustrierte und akribisch zusammengestellte Abhandlung von Carl Kinze et al. liest sich phasenweise wie ein Krimi und bereitet neben so mancher Erhellung auch große Freude.
Nicht in allen Artikeln wird im wissenschaftlichen Stil im Text zitiert. Es sind aber alle Texte mit einem komfortablen Literaturverzeichnis ausgestattet, das einem hilfreich zur Seite steht, wenn man den vorgestellten Fakten auf den Grund gehen möchte.

Schweinswale

Dann folgt als häufigste Zahnwalart in der Ostsee der Schweinswal. Die Aufsätze reichen vom Schweinswalfang beim dänischen Middelfart, über die wissenschaftliche Auswertung von Zufallssichtungen durch Wassersportler, die Forschungsarbeiten in dänischen Gewässern, Bestandserhebung und Todfundmonitoring an deutschen Küsten, Schweinswale in polnischen Gewässern, das akustische Monitoring von Schweinswalen, Genetik des Ostsee-Schweinswals bis zum Schutz der Schweinswale.

Wale und Robben in der Ostsee. Meer und Museum Band 23, S. 63
Info-Kästen bereichern mit Hintergrundwissen.

Die Beiträge bieten eine Runduminformation über den aktuellen Stand der Schweinswalforschung. Jonas Teilmann stellt die Ergebnisse der Besenderung von Schweinswalen in dänischen Gewässern vor. Die 2005 durchgeführten und 2008 publizierten Flugzählungen in der „deutschen Ostsee“ werden von Ilka Hasselmeier et al. präsentiert, ohne die Leserschaft durch Beschreibung der Algorithmen herauszufordern, die notwendig sind um aus Sichtungen Bestandsschätzungen werden zu lassen. Einprägsam für das Verständnis der Bedrohung der Ostsee-Schweinswale ist die Abbildung, die die Dichte der gesichteten Stellnetzflaggen zeigt.

Besonders interessant, weil in Deutschland nur wenigen Eingeweihten bekannt, sind die Schilderungen über die Geschichte des Schweinswals in Polen, aktuelle Forschung und die schweren Schritte, um das Thema in Polen populär zu machen.

Der Einsatz von Klickdetektoren ist unverzichtbares Mittel der Wissenschaft und wird in einem Artikel von Anja Gallus et al.beschrieben. Hier spielt auch mal der Schweinswal selbst eine Rolle, wird doch die Physiologie der Echoortung beschrieben.
In diesem Artikel ist ein Info-Kasten zum GemeinschaftsprojektSAMBAH untergebracht und stellt Programm und Projektziele vor. In dieser Art wird fast jeder Artikel thematisch passend durch zusätzliche Informationen aufgelockert und inhaltlich bereichert.

Eine vom Standpunkt des Artenschutzes aus besonders relevante Frage ist die danach, ob es eine eigene Ostsee-Schweinswalart gibt. Antworten darauf erwartet man heute von der Genetik und so erläutern Annika Wiemann et al. im Artikel „Gibt es den Ostsee Schweinswal?“ ihre Untersuchungen. In einem Info-Kasten werden auch klassische morphometrische Techniken vorgestellt, die derzeit durchgeführt werden. Stefan Bräger nimmt zum Abschluss der Schweinswal-Beiträge den Ball des Genetik-Artikels auf, überzeugt die Leser von der Schutzwürdigkeit der Ostsee-Schweinswale und stellt den vielfältigen Bedrohungen die derzeitigen Schutzbemühungen gegenüber.

Vermissen

Es verwundert, dass auf der Ostseekarte der Schweinswalberichte Schweden als weißer Fleck verbleibt, ist doch von dort auch Schweinswalforschung bekannt, wie unter anderem einige Zitate von Jonas Teilmann belegen. Finnland oder die baltischen Staaten wirken zwar auch im Projekt SAMBAH mit, aber dort ist das Schweinswalvorkommen deutlich geringer als in Schweden. Zwar ist Per Berggren als Co-Autor am Genetik-Aufsatz beteiligt, aber es bleibt ungeklärt, warum etwa die Information über aktuelle Resultate aus dem Todfund- und Sichtungsprogramm des Schwedischen Naturhistorischen Museums (Naturhistoriska riksmuseet) sowie Befunde der Schweinswalforschung von Julia Carlströn, Patrick Börjesson oder Per Berggren keinen Weg in diesen Band gefunden haben.

Und wo wir gerade beim Vermissen sind: Während die Beifangproblematik und der Konflikt mit der Fischerei an vielen anderen Stellen zu Recht Erwähnung findet, scheint das Thema, das vielen Walforschern in den letzten Jahren Projektgelder beschert hat und zu dem viele Erkenntnisse vorliegen müssten, keine so große Bedeutung zu haben. Zum Einfluss von Offshore-Windenergie-Anlagen auf die Schweinswale (und die anderen Meeressäuger) sind nur im Artenschutz-Artikel von Stefan Bräger 25 Zeilen zu lesen. Immerhin sind mindestens 15 Anlagen in der Ostsee in Betrieb und mindestens 7 in Planung (Wikipedia).
Keine Erwähnung hat auch die Problematik der Munitionssprengungen gefunden, für deren Kenntnis Sven Koschinski sorgt.

Wie sind diese Lücken zu bewerten? Sicher würde man noch weitere unerwähnte Mosaiksteinchen finden, die für die Meeressäuger der Ostsee eine Rolle spielen. Aber die Aufnahmekapazität eines Buches ist irgendwann auch einmal erschöpft und man muss Abstriche machen, um ein Werk überhaupt fertigstellen zu können. Die Leser können sich trotzdem sicher sein, dass die wesentlichen Punkte Erwähnung gefunden haben.

Bartenwale

Titelseite von Wale an der Küste Mecklenburg-Vorpommerns von Gerhard Schulze

Nach der Abhandlung der Schweinswale bekommen die Bartenwale auch noch zwei Kapitel. Hier wird explizit auf den Artikel „Wale an der Küste Mecklenburg-Vorpommerns“ von Gerhard Schulze verwiesen, der die Grundlage dieser überregionalen Fortsetzung darstellt. Acht Bartenwale haben sich in der Ostsee blicken lassen, zu jeder Art wird dem Text eine Auflistung von Fund-/Beobachtungsjahren in den letzten Jahrhunderten vorangestellt, unterteilt nach Ländern bzw. deutschen Bundesländern. In den Beschreibungen finden sich der von Greenpeace 2006 entführte Finnwal oder das im Jahr 2000 vor der Insel Seeland spektakulär als Brydewal identifizierte Tier.

Ostseerobben

Sieben Artikel beschäftigen sich mit Seehunden, Kegelrobben und Ringelrobben. Internationale Schutzmaßnahmen und die Bedrohungssituation bilden den Anfang der Artikelserie. Der Seehund erhält den zweiten Artikel. In einem weiteren Text stellt Olle Karlsson Kegelrobben und Ringelrobben insbesondere aus schwedischer Sicht vor. Iwona Pawliczka berichtet über die polnischen Kegelrobben genauso spannend wie über die Schweinswale. Sie leitet ein mit historischen Beschreibungen, schildert Bedrohungen vor allem durch die Fischerei und beschreibt aktive Forschungsarbeit der Hel-Station. Einen großen Rundblick über die Rückkehr der Kegelrobben an die deutsche Ostseeküste liefern Henning von Nordheim, Katharina Maschner und Alexander Liebschner. Die durch den Klimawandel gefährdeten Ringelrobben stellt Stefan Bräger vor. Die Präsentation einer wichtigen Forschungseinrichtung für Seehunde, dem Marine Science Center in Rostock schließt diese Artikelserie ab.

Scrimshaw und Interna

Nicht mehr zu den Walen und Robben der Ostsee gehört der Bericht des 2011 verstorbenen Klaus Barthelmess über die neu erworbeneScrimshaw-Sammlung des Meeresmuseums. In gewohnter Detailtiefe erfährt der Leser hier einiges über kunsthandwerkliche Arbeiten aus Meeressäugerprodukten.

Es verwundert nicht, dass dieser Band aus einem Haus kommt, das auch auf anderen Feldern große Aktivitäten zeigt. Über die Veranstaltungen und Aktivitäten der Stiftung Deutsches Meeresmuseum in den Jahren 2009 und 2010 berichten Harald Benke und Götz-Bodo Reinicke. Nicht zuletzt diese 35 Seiten sollten jeden Leser neugierig auf einen Besuch in Stralsund machen, wo Meeresfreunde Tage des Staunens und der Inspiration verbringen können.

Wenn man dann die Buchbesprechungen, die englischen Zusammenfassungen der Meeressäuger-Artikel und ein Autorenverzeichnis durchgesehen hat, dann ist man tatsächlich am Ende angekommen und kann sich Gedanken über dieses Buch machen:

Aufmachung

Wale und Robben in der Ostsee. Meer und Museum Band 23, S. 74
Ausklappbarer Umschlag mit Abbildungen von Pieter Arend Folkens.

Die 336 Seiten werden von einem wasserabweisenden Softcover zusammengehalten, das sich hinten noch ausklappen lässt. Auf der vorderen inneren Umschlagseite sind die Todfunde gestrandeter Wale (außer Schweinswale) in der Ostsee zwischen 1991 und 2010 in eine Karte eingetragen.
Die hintere Umschlagseite lässt sich ausklappen und zeigt alle in der Ostsee vorkommenden Robben- und Walarten im Maßstab. Diese erstklassigen Illustrationen sowie weitere im Innenteil des Bandes wurden von Pieter Arend Folkens zur Verfügung gestellt.

Fehler

Es ist überhaupt nicht verwunderlich, dass in so ein großes Projekt auch Fehler hineinrutschen. Dem Lektorat „durch die Lappen“ gegangen sind drei doppelt abgegedruckte Absätze im autorenreichsten Genetik-Artikel. Haben hier die vielen Köche den Brei verdorben? Verdorben ist hier nichts, denn dem aufmerksamen Leser wird hier nichts untergejubelt und der Lesegenuss nach einem kleinen Holperer nicht nachhaltig getrübt.

Fazit

Dieses Buch ist ein echter Lichtblick unter den deutschsprachigen Veröffentlichungen über Meeressäuger. Dabei gelingt es den vielen, wissenschaftlich hochkarätigen Autoren spannend und unterhaltsam zu schreiben und dabei viel Wissen über den Lebensraum Ostsee und die darin lebenden Meeressäuger zu vermitteln. Ähnlich wie es Anspruch der oben erwähnten Neuen Brehm Bücherei ist, wissenschaftlich korrekte und fundierte Informationen gut verständlich anzubieten, gelingt dieses auch mit diesem Band.
Man muss kein expliziter Meeressäugerspezialist sein, um die Artikel mit Gewinn lesen zu können. Ich denke, dass jeder, der das Buch in die Hand nimmt nach wenigen Seiten in den Bann der interessanten, kurzweiligen und hervorragend illustrierten Artikel gezogen wird.
Nach der Lektüre wird man über aktuelle Arbeitstechniken in der Walforschung genauso informiert sein wie über diesen besonderen Lebensraum Ostsee. Ein noch tieferes Studium ermöglichen die Literaturangaben zu jedem Aufsatz. Dieser Band ist ein wichtiger Beitrag zum Schutz des Ostsee-Schweinswales, weil hier seriös, unaufdringlich und vor allem tiefgehend informiert wird.

Und wenn man dann noch weiß, dass dieser Band, der beschwerdelos für über 50 Euro verkauft werden könnte, für nur 15 Euro erworben werden kann, dann kann man nur ein schnellesZugreifen empfehlen.

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