Die frühen Urwale Indopakistans

von Johannes Albers | cetacea.de | Essen | 25. Juli 2010

Klärung eines Puzzles

Allgemein anerkannt ist, dass die Vorfahren der Cetaceen (Waltiere) urtümliche Huftiere waren. Die meisten Forscher sind sich auch einig, dass die nächsten Verwandten der Wale unter den heutigen Landtieren bei den Paarhufern zu finden sind (zu denen z.B. Rinder, Schweine und Kamele gehören). Aber nähere Detailfragen führten zu Meinungsverschiedenheiten zwischen Morphologen und Molekulargenetikern, wie Thewissens Standardwerk über die Urwale von 1998 zeigt.(4) Die Morphologen fanden, näher als mit den Paarhufern seien die Wale mit der ausgestorbenen Huftiergruppe der Mesonychier verwandt. Die wurde lange als Stammgruppe der Cetaceen ausgegeben, bis die paläontologische Forschung erwog, sie eher als eine Schwestergruppe der Wale anzusehen, mit denen sie gemeinsame Vorfahren in den ausgestorbenen Arctocyoniden haben könnte.(5)

Molekularbiologen hingegen meinten, dass Wale mit den Paarhufern nicht nur verwandt seien, sondern dass sie selbst abgewandelte Paarhufer sind und ihre nächsten Verwandten in den Flusspferden haben.(67)

Sowohl die morphologischen als auch die molekularbiologischen Ansätze hatten ihre Schwächen: Letztere konnten keine fossilen Formen auswerten, und erstere mussten sich oft auf lückenhaftes und unvollständiges Fundmaterial stützen. Im Reich der Moleküle sind die jüngst ins Auge gefassten Retroposonen schwer zu entdecken, wenn die sie flankierenden Bereiche dem Verfall durch Mutationen unterliegen.(8) Der Befund morphologischer Vergleiche war so verwirrend, dass es schwerfiel, das Puzzle richtig zusammenzusetzen, also das Evolutionssignal von Konvergenzerscheinungen oder Rückentwicklungen zu unterscheiden.(9)

In diese Situation fallen die neuen Funde aus Pakistan. Die Thewissen-Gruppe fand an einer Stelle in der eozänen Kuldana-Formation eine Ansammlung von rund 150 Cetaceen-Knochen. Sie gehören zu verschiedenen Arten und Gattungen aus der Familie Pakicetidae, von der zuvor nur Zähne, Kiefer und verschiedene Kopfteile beschrieben waren. Nun rekonstruierten die Forscher für zwei Arten unterschiedlicher Gattung das Skelett: Pakicetus attocki war fast wolfsgroß, Ichthyolestes pinfoldi fuchsgroß. Überraschend erschien aber, dass beide Rekonstruktionen den Körperbau von Landtieren ergaben. Besonders wichtig war es, die Füße gefunden zu haben. Dabei zeigte sich, wie auch in den geologisch jüngeren Funden der Gingerich-Gruppe, eine enge Verbindung mit den Paarhufern. Insofern bestätigen die neuen Funde die Ergebnisse der Molekulargenetik. Auch für die enge Flusspferd-Verwandtschaft der Wale wurde 2003 und 2005 morphologische Unterstützung durch breit angelegte Vergleiche vorgetragen. (4243) Neue Wertschätzung erfährt daher eine Äußerung von 1883, in der William Henry Flower sein Konzept eines Walvorläufers ausdrücklich durch den Vergleich mit einem Flusspferd erklärt. (48)

Dem steht gegenüber, dass die Abkunft der geologisch noch jungen Flusspferde von eozänen Kohlentierartigen (Anthracotherioidea) bezweifelt wird, so dass sich die Frage stellt, ob man auf diesem Wege eine Linie zu einem gemeinsamen Ahnen von Wal und Flusspferd ziehen kann. Doch verschiedene Cladogramme (5455) stellten in direkte Nachbarschaft der Flusspferde die ausgestorbenen Raoelliden. Deren indischer Vertreter Indohyus, 48 Millionen Jahre alt, steht nach jüngsten Erkenntnissen der Thewissen-Gruppe von 2007 in einem engen Schwestergruppen-Verhältnis zu den Walen.(56) Im Vergleich dazu erscheinen die Flusspferde wieder in größerer Distanz, auch wenn sie die nächsten noch lebenden Wal-Verwandten sein mögen.

Überhaupt nicht begriffen worden ist die Problematik beim populären GEO-Magazin: Dort stellt eine Graphik in der Dezember-Nummer 2001 eine Abstammungsreihe Paarhufer – Mesonychier – Wale dar. Die Bildbeschriftungen des Artikels (10) zeugen von keinem besseren Verständnis. Eine zutreffende Darstellung bietet hingegen einen Monat zuvor das amerikanische National Geographic Magazine.(11)

Die Thewissen-Gruppe glaubte 2001 zu zeigen, wie die Tiere am Beginn ihrer Rückkehr ins Wasser, der Urheimat allen Lebens, aussahen. Nach der mikroskopischen Untersuchung von Pakicetus-Knochen gehen Thewissen und seine Kollegin Sandra Madar aber nun davon aus, dass das Tier bereits stärker an das Wasser gebunden war als zunächst gedacht: Es war wohl weniger ein Läufer an Land als ein Water in Flüssen. (12) Damit geben sie Philip Gingerich Recht, der schon im Februar 2002 die Einschätzung als vorwiegend landlebendes Tier kritisiert hatte. (44)

Auch der Pflanzen- oder Allesfresser Indohyus war ein solcher Water in Süßwasser. Daher glaubt Thewissen, dass die Wale von Tieren abstammen, die sich bereits dem Wasserleben zugewandt hatten. Die Walwerdung vollzog sich demnach nicht durch einen Wechsel des Lebensraums, sondern erst durch eine Spezialisierung auf tierische Nahrung aus dem Wasser.