Deutschland holt alte Ägypter: Protocetus, Eocetus und Co.

von Johannes Albers | cetacea.de | Essen | 4. Oktober 2013

Protocetus atavus

Der Schädel des Protocetus atavus im Staatlichen Museum für Naturkunde in Stuttgart. Zu sehen ist die Unterseite mit den Zähnen des Oberkiefers. Dieses Original ist nicht öffentlich ausgestellt. Verschiedene Museen (Stuttgart, Berlin) zeigen einen Abguss, bei dem fehlende Teile ergänzt sind.
Bild: Johannes Albers
Einen Walfund von Weltrang sammelte Markgraf im Frühjahr 1903 an der Basis des Mokattam auf, wo Meeresablagerungen aus weißem oder hellgelbem Kalkstein vorliegen. Man nannte sie die Gizehensis-Schichten (nach dem Leitfossil Nummulites gizehensis). Sie lieferten den Schädel, viele Wirbel und Rippen eines Wals, der ein Menschenleben lang der geologisch älteste bekannte Wal überhaupt war, ca. 45 Millionen Jahre alt. Der Fund gelangte, noch eingebettet in seine Kalkstein-Matrix und in Form mehrerer großer Brocken, nach Stuttgart zu Fraas. Der erzählt in seiner Beschreibung 1904:
„Da Schädel, Wirbel und Rippen ziemlich regellos durcheinandergedrängt lagen und sich durchkreuzten, so war es leider trotz aller Sorgfalt nicht zu vermeiden, dass einzelne Knochenreste zertrümmert und abgesprengt werden mussten, um andere besser erhaltene blosszulegen.“ Das gilt insbesondere für die Rippen. Die Schwanzwirbel konnten nicht freipräpariert werden.
Von einem zweiten Tier derselben Art kam eine Serie von fünf Rumpfwirbeln nach Stuttgart. Fraas erfand für die Art den Namen Protocetus atavus. Dabei heißt Protocetus „Urwal“ oder „Vorwal“, atavus ist lateinisch der „Urahn“ oderVorfahre. Heute liegen seine versteinerten Knochen im Magazin des Staatlichen Museums für Naturkunde in Stuttgart. Die Gesamtlänge des lebenden Tieres wird auf etwa 2,50 Meter geschätzt.

Der Schädel ist rund 60 Zentimeter lang, dem Fundstück fehlt aber die Schnauzenspitze mit den Schneidezähnen. Auch die Jochbögen sind nicht erhalten. Die fehlenden Teile wurden in Zeichnungen und in einem Abguss ergänzt, der in verschiedenen Ausfertigungen in mehreren Museen ausgestellt ist. Der Originalschädel ist in zwei Teile zerbrochen, außerdem sind die Gehörkapseln abpräpariert. Einige abgebrochene Zähne sind im Abguss ergänzt.

Die besondere Bedeutung des Schädels liegt darin, dass er zwischen späteren Walen wie dem riesigen Basilosaurus und den ursprünglichen Landtieren vermittelt, von denen die Wale abstammen. Die lang nach vorn ausgezogene Schnauze ähnelt in ihrer Form bereits späteren Walen. Die Bezahnung dagegen erinnert noch stark an die der ursprünglichen Landsäuger: Die Backenzähne haben noch nicht die stark gekerbten Schneiden wie bei Basilosaurus oder Dorudonhervorgebracht, und die Zahnformel entspricht noch den Vorfahren an Land: In jeder Kieferhälfte sitzen hinter den drei Schneidezähnen und dem Eckzahn vier Prämolare und drei Molare. Damit stehen in jeder Reihe elf Zähne. Basilosaurusund Dorudon haben bereits den je letzten Zahn im Oberkiefer eingespart.

Weil die Beckenknochen und die (sicher vorhanden gewesenen) Hinterbeine nicht erhalten sind, diskutiert man bis heute die Möglichkeit einer festen Verbindung des Beckens mit der Wirbelsäule. Davon hing die Fähigkeit des Protocetusab, sich noch auf vier Füßen an Land bewegen zu können. Für eine feste Anheftung des Beckens sprechen Verdickungen an einem Wirbel, den man als einen (einzelnen) Kreuzbeinwirbel deutet. Jedenfalls vermittelt Protocetus auch zwischen späteren, rein wasserlebenden Walen (wieBasilosaurus) und früheren Urwalen, die noch auf vier Beinen an Land gehen konnten und die man seit den 1970er Jahren in Indopakistan gefunden hat (z.B. Pakicetus undAmbulocetus).

Stellt man Protocetus atavus in eine Reihe mit den früheren Walen aus Indopakistan und mit späteren Walen, so lässt sich auch die zunehmende Ablösung der Gehörknochen von der Schädelbasis beobachten. Darin liegt eine Anpassung an das Richtungshören unter Wasser, das uns Menschen praktisch unmöglich ist. Denn unter Wasser versetzen Schallwellen unseren ganzen Kopf in Schwingungen, so dass wir keine brauchbaren Zeitunterschiede messen können, wann der Schall beim einen Ohr eintrifft und wann beim anderen. Die Wale dagegen haben im Verlauf ihrer Evolution die Ohrknochen vom Rest des Schädels abgekoppelt. Daher übertragen sich bei ihnen die Schädelschwingungen nicht auf die Gehörorgane, zumal da die Ohrknochen sehr schwer und kompakt gebaut sind: Sie liegen wie ruhende Pole in dem Tier und ermöglichen so exakte Messungen.

Protocetus machte der Münchener Paläontologe Ernst Stromer 1908 zur Typusgattung einer neuen Familie namens Protocetidae. Darin fasste er besonders frühe und urtümliche Urwale (ProtocetusEocetus – s.u.) zusammen und grenzte sie gegen spätere, weiter evoluierte Urwale (Basilosaurus,Dorudon etc.) ab. Bis in die Mitte der 1990er Jahre wurden auch die sehr frühen amphibischen Wale aus Indopakistan zu den Protocetidae gestellt. Dann war eine Revision fällig, in der 1996 die neuen Familien Pakicetidae und Ambulocetidae ausgegliedert wurden. Deren Vertreter sind mehrere Millionen Jahre älter als Protocetus atavus. Weitere Revisionen früher Urwale sind für die Zukunft zu erwarten.