Die Wale von Linz in Österreich

von Johannes Albers | cetacea.de | Essen | 31. Dezember 2009

Die Studie Abels und ihre Kritik

Abel trennt die Linzer Squalodon-Schädel von eben dieser Gattung ab. Für die Schädel von 1841 und 1910 führt er die neue Gattung Patriocetus ein: Sie heißen nun Patriocetus Ehrlichi, am Ende mit einfachem –i. Der Gattungsname bedeutet Vaterländischer Wal“ und ist wohl angeregt durch das alte Vaterländische Museum in Linz. Die Verkürzung um ein –i, seit Abel weit verbreitet, ist jedoch nicht statthaft. Daher lautet heute die komplette Artbezeichnung mit Autorenname und Jahreszahl Patriocetus ehrlichii (van Beneden, 1865). Der Autor, der die Form als eigene Art erkannt hat, steht in Klammern, weil sich seit seiner Beschreibung die Gattungseinordnung geändert hat.

Abel befasst sich auch mit Wirbeln, um die schon von Meyer und Müller, Brandt und van Beneden gerungen hatten:

Er richtet eine eigene provisorische Patriocetus-Art für drei (vermutete) Lenden- und drei Schwanzwirbel ein, die seiner eigenen Aussage nach wahrscheinlich 1841 zusammen mit dem ersten Schädel gefunden wurden, aber möglicherweise nicht zu ihm und seiner Art gehören. Die provisorische Art nennt Abel Patriocetus Denggi (später Patriocetus dengigeschrieben). Zwei der angeblichen Lendenwirbel werden 1936 von dem Niederländer Everhard Johannes Slijper als weitere Schwanzwirbel uminterpretiert. Damit folgt er einem Hinweis, den schon 1903 Ernst Stromer in München gegeben hatte. Einen siebenten Wirbel hatte Brandt 1873 zu den sechs anderen gestellt, aber 1874 provisorisch zu einer eigenen Art Squalodon hypsispondylus? erklärt. Diesen Schwanzwirbel zählt Slijper mit zu Patriocetus dengi. Doch beide provisorische Arten werden heute nicht mehr anerkannt; die Wirbel zählt man (zumindest großenteils) zu dem Bartenwal Cetotheriopsis.

Für den zweiten Linzer Walschädel (Brandts Squalodon incertus?) richtet Abel die neue Gattung Agriocetus ein. Er nennt die Art Agriocetus austriacus. Doch den Artnamen austriacus lehnt Kellogg 1923 ab: Im Sinne der Prioritätsregel, nach welcher der älteste Name gilt, greift Kellogg auf Brandt (Squalodon incertus?) zurück und nennt die Art Agriocetus incertus. Offenbar hatte Abel Brandts incertus (unsicher) nicht als Artnamen auffassen wollen. Auch der Franzose Christian de Muizon bevorzugt 1994 Abels Namensform Agriocetus austriacus. Dagegen hält sich z.B. Karlheinz Rothausen an den Artnamen incertus. Und da aus Brandts etwas schillernden Äußerungen nicht hervorgeht, dass er incertus nicht als Artnamen verstehen will, sollte man diesem Namen in der Tat den Vorrang gegenüber Abel geben, der dann auch nicht als Autor der Art erscheint. Die komplette Angabe lautet folglich korrekt: Agriocetus incertus(Brandt, 1874).

Unstrittig ist heute die Angabe Cetotheriopsis lintianus (von Meyer, 1849). Nur rein irrtümlich erscheint als Autor dieser Art in den Mitteilungen der Geologischen Gesellschaft in Wien 1969 van Beneden.

Abel vereinigt seine neuen Gattungen Patriocetus und Agriocetus in einer neuen Familie namens Patriocetidae. Darin erblickt er Urwale (Unterordnung Archaeoceti), die sich auf dem Evolutionsweg hin zu Bartenwalen (Unterordnung Mysticeti) befinden. Agriocetus sei schon weiter fortgeschritten als Patriocetus. Da ihr Zeitgenosse Cetotheriopsis bereits ein fertiger Bartenwal ist, müsse die Evolution sehr schnell verlaufen sein. Abels Studie trägt den Titel: Die Vorfahren der Bartenwale.

In Abschnitt II der Studie schreibt Abel, dass bereits Hermann von Meyer 1847 über Agriocetus urteile, er nähere sich mehr den pflanzenfressenden Cetaceen als den Delphinen an. Hier stützt sich Abel aber nicht, wie sonst üblich, auf den Originaltext, sondern zitiert nur aus zweiter Hand, nämlich einem Text von Carl Ehrlich. Liest man von Meyers 1847er Originaltexte, dann wird deutlich: Er meinte mit Pflanzen-fressenden Cetaceen nicht etwa Bartenwale, sondern (viel korrekter) Seekühe, die damals auch noch zu den Cetaceen gerechnet wurden – aber nicht mehr zu Abels Zeit. Somit führt Abels Hinweis völlig in die Irre und es kommt der Verdacht auf, es sei kein Zufall, dass Abel gerade in diesem Fall die Originalquelle nicht nennt.

Schon 1915 bestreitet Ernst Stromer, dass in den Patriocetidae Ahnen von Bartenwalen vorliegen. Kellogg hält es 1928 mit Blick auf mögliche, noch unbekannte Vertreter der Familie für denkbar. Doch er macht eine wichtige Beobachtung: Abels Patriocetus-Zeichnung wirkt, als habe der Schädel an der Verbindung von Oberkiefer und Stirnbein einen strukturellen Defekt mit mangelhafter Abstützung der Schnauze. Ein derartiger Schädelbau war höchst unnormal und rätselhaft.

Wie Stromer, stellt sich 1936 auch Slijper gegen Abels Ahnen-These und verweist schließlich 1962 darauf, dass Bartenwale schon Millionen Jahre vor Patriocetus lebten. Reine Spekulation bleibt die Erwägung des Dänen Herluf Winge von 1918, Patriocetus könne womöglich trotz großer Zähne bereits selbst zu der Unterordnung der Bartenwale gehören, und zwar zur rezenten Familie der Glattwale (Balaenidae).

Bereits früh kommt eine ganz andere Denkrichtung auf, die zunächst ein Schattendasein führt: Schon König hatte 1911 an der Unterseite des Patriocetus-Schädels Ähnlichkeiten mit Zahnwalen gesehen. 1922 bemerkt Josef Felix Pompeckj in einer Frankfurter Studie, dass das Perioticum des Ohrskeletts bei Patriocetus so wie in Zahnwalen ausgebildet ist. 1923 äußert dann der Amerikaner Gerrit Miller in einer Studie zum Schädelbau von Walen erstmals die Meinung, Patriocetus sei auch tatsächlich ein Zahnwal. 1945 stellt George Gaylord Simpson Patriocetus und Agriocetus nur noch mit Fragezeichen zu den Urwalen.