Die Wale von Linz in Österreich

von Johannes Albers | cetacea.de | Essen | 31. Dezember 2009

Rothausen und die nachfolgende Forschung

Die Aufklärung des lange im Raume stehenden Problems liefert Karlheinz Rothausen, zunächst in seiner Habilitationsschrift von 1965, dann in einem Fachartikel von 1968: Abel hatte Brüche im sedimentbedeckten Fossilmaterial für biologische Knochengrenzen gehalten und deshalb nicht die Aufschiebung der Oberkieferknochen auf die Stirnbeine bemerkt, die belegt, dass es sich bei den Patriocetidae in der Tat um Zahnwale (Unterordnung Odontoceti) handelt.

Rothausen irrt dabei aber selbst, indem er meint, die Scheitelbeine würden sich nicht über die ganze Breite des Schädeldaches erstrecken. 1977 korrigieren die Amerikaner Frank Whitmore und Albert Sanders Rothausens Schädelzeichnung von Patriocetus ehrlichii, müssen nach Studien am Linzer Material aber ihre eigene Darstellung nochmals korrigieren, da die Scheitelbeine in der Mitte des Schädeldaches vom Supraoccipitale überdeckt werden. Damit wird Rothausens Irrtum verständlich, und die Forschung pendelt sich nach dem Hin und Her auf die korrekte Erkenntnis ein.

Dabei freilich verwechseln die Amerikaner die beiden Linzer Patriocetus-Schädel miteinander. Das liegt an einer verwirrenden alten Nummerierung im Linzer Museum: Der Holotyp von 1841 erhielt die Bezeichnung Cet. 18, der Schädel von 1910 mit Cet. 4 eine niedrigere Nummer. Grund dafür könnte eine Bemerkung van Benedens 1865 sein, dass man einen fast vollständigen Schädel hat. Da der erst 1910 gefundene Schädel weit vollständiger ist als der von 1841, kam es bei der Nummerierung womöglich zu einer Verwechslung beider Stücke.

(Bei einer neuen Datenbank-Nummerierung von Linzer Fossilien werden 1999 gar selbe Nummern zwei Mal vergeben, an Wirbeltier-Fossilien und zugleich an Wirbellose. Daher ist es kein Zufall, dass Kurator Dr. Bernhard Gruber schließlich in Frühpension geschickt wird. Auch die stratigraphischen Angaben sind widersprüchlich. 2009 wird die Nummerierung zu der Form modifiziert, wie sie hier in den Bildbeschriftungen erscheint.)

Viel diskutiert wurde die Familienstellung der Patriocetidae: Rothausen sieht diese Wale im Evolutionsgrad zwischen Agorophius und Squalodon stehend. Er ordnet sie in den 60er Jahren nur noch als Unterfamilie Patriocetinae in die Familie Squalodontidae ein. Der Georgier Guram Andreewitsch Mchedlidze hingegen will sie 1976 in die primitivere Familie Agorophiidae stellen. (1970 sah er noch mit Abel die Patriocetidae als Urwal-Vorläufer der Bartenwale an, und wollte ihnen weitere Gattungen aus dem Kaukasus einverleiben. Damit hat er sich aber nicht durchgesetzt.)

Rothausen und Sanders untersuchen 1992 erneut das Material in Linz und gelangen nun ebenfalls zur Einordnung der Unterfamilie in die Agorophiidae. Derweil halten Robert Ewan Fordyce aus Neuseeland und Lawrence Barnes aus Kalifornien 1994 eine mögliche Einordnung bei den Squalodontidae in der Diskussion.

Im Jahre 2000 erwägen dann Sanders und Irina Dubrovo aus Moskau, dass es vorbehaltlich weiterer Forschungen geboten sein könnte, zu der Einstufung als eine eigenständige Familie Patriocetidae zurückzukehren. Sie beschreiben eine neue Patriocetus-Art aus Kasachstan (Patriocetus kazakhstanicus) und verweisen auf noch unbenannte Funde in den USA. Zunächst aber erscheint Patriocetus 2005 auf einem Poster von Pieter Arend Folkens als Gattung mit unsicherer Einordnung.

Komplett in Frage gestellt wird 1977 durch Whitmore und Sanders die Einordnung von Agriocetus: Ihre Tabelle 1 listet ihn klar als Zahnwal, doch im Text ihrer Arbeit gehen sie dazu über, seine Zuordnung zu einer Unterordnung offen zu halten, ganz zu schweigen von einer Familieneinordnung, auf die auch spätere Literatur gern verzichtet. 2001 betrachten Fordyce und Muizon das Agriocetus-Material wegen seiner Dürftigkeit als nicht diagnostisch und den Namen Agriocetus als von zweifelhaftem Wert (nomen dubium). Zwar wird letzteres 2007 von Mark D. Uhen und Nicholas D. Pyenson bestätigt, doch nicht alle Forscher wollen so pessimistisch sein wie der Neuseeländer und der Franzose. Derweil glaubt ein Sammler, einen 2001 im niederösterreichischen Winzing gefundenen Zahn sicher als Agriocetus incertus bestimmen zu können, und zeigt ihn unter diesem Namen stolz im Internet.

Der Finne Mikko Haaramo stellt ein Modell dar, das Agriocetus von den Patriocetinae trennt, aber beide Taxa innerhalb der Squalodontidae sieht. Und ob die Patriocetinae mit nur einer verbleibenden Gattung den Rang einer eigenen Familie verdienen, ist für Fordyce 2008 zweifelhaft. Er erinnert sich an seine Fahrt nach Linz wie an eine Pilgerreise zu einem Heiligtum. Allerdings wurde seitdem der größte Teil der geowissenschaftlichen Sammlungen aus dem Francisco-Carolinum ausgelagert, inklusive der Walfossilien. Sie wurden in die Außenstelle Welserstraße nach Leonding gebracht.

Wie immer die genannten Fragen weiter geklärt werden, zu der notwendigen ausstehenden Forschung gehört in jedem Fall die Beschreibung einer dritten Patriocetus-Art aus der Niederrheinischen Bucht. Ihr Schädelfragment wurde von Rothausen bereits untersucht und liegt in Essen, das als Flaggschiff des Ruhrgebiets zur Europäischen Kulturhauptstadt 2010 erkoren wurde. Derweil besteht in Linz Bedarf, sich Fachliteratur über die eigenen Stücke zuzulegen. So verzahnen sich Linz und Essen als Europäische Kulturhauptstädte 2009 und 2010 auch in konkreten Aufgaben der Erforschung und wissenschaftlichen Pflege des Naturerbes.

Die hier vorliegende Darstellung, in Essen geschrieben, dürfte deutlich machen, dass an der Erfüllung dieser Aufgaben ein europa-, ja weltweites Interesse besteht. Die Arbeiten an der Studie zur Widerlegung der Cahuzac-Gruppe und an dem hier vorliegenden Artikel trugen bereits dazu bei, dass in Linz das Verständnis der dortigen Sammlungsstücke vertieft werden konnte. Einige von ihnen werden ab Ende August 2009 im neuen Südflügel des Linzer Schlossmuseums dauerhaft ausgestellt. Da der alte Südflügel anno 1800 durch einen Brand zerstört und erst in jüngster Zeit durch einen neuen ersetzt wurde, enthält dieser Ort eine Wiederauferstehungssymbolik, die wie geschaffen ist für eine Ausstellung von Fossilien der oligozänen Wale von Linz.