Die grotesken Walrosswale von Peru: Odobenocetops

von Johannes Albers | cetacea.de | Essen | 16. September 2012

Odobenocetops peruvianus

Schädel von Odobenocetops peruvianus im Staatlichen Museum für Naturkunde, Karlsruhe. Ansicht von oben. Dach und Hinterwand des Hirnschädels weithin fehlend. Die Schläfengruben sind nicht überdeckt, da diese Gattung die Knochenüberschiebungen (telescoping) moderner Wale stark zurückgebildet hat. Rechts beachte man den stabförmigen Zahn.
Bild: Johannes Albers

Am 21. Oktober 1993 erschien in dem renommierten Wissenschaftsmagazin Nature Muizons Erstbeschreibung des neu entdeckten, etwa delphingroßen Walrosswals aus dem frühsten Pliozän (vor ca. 4 — 5 Millionen Jahren). Weit im Süden der Pisco-Formation, bei Breitengrad 15,5 in der Süd-Sacaco-Gegend, hatte man einen Walschädel voller Besonderheiten gefunden: Die Schnauze, normalerweise bei Walen mehr oder weniger lang nach vorn ausgestreckt, ist bei Odobenocetops kurz und stumpf. Dabei biegen die Knochen der Schnauzenspitze (die Prämaxillae) winkelartig nach unten und zu den Außenseiten ab. Sie bilden Scheiden für ein Paar von Zähnen, die 1993 an die Hauer eines Walrosses (wissenschaftlich Odobenus) erinnerten. Daher bekam das Tier seinen Gattungsnamen. Dieser erste Schädel (Holotyp) eines Walrosswals gehört heute dem US-Nationalmuseum für Naturkunde in Washington.

Die Zähne

Die hauerartigen Zähne waren merkwürdig geformt: Der rechte Zahn war deutlich größer und länger als der linke. Muizon glaubte damals, der linke Zahn sei äußerlich wohl gar nicht sichtbar geworden, sondern innerhalb seiner Scheide verborgen geblieben. Das erinnerte an ein Narwal-Männchen, bei dem freilich der berühmte bohrerförmige „Stoßzahn“ links wächst, während das rechte Gegenstück üblicherweise verkümmert und von außen unsichtbar bleibt.

Die genauen Verhältnisse bei Odobenocetops konnte man allerdings nur vermuten, da die linke Zahnscheide beschädigt und ihr Zahn an der Bruchstelle ebenfalls abgebrochen war. Auch der große rechte Zahn war ein Stück nach seinem Austritt aus der Scheide abgebrochen. Deshalb ließ sich über die tatsächliche Größe auch dieses Zahns nur spekulieren. Hinter den beiden Hauern waren die Kiefer von Natur aus zahnlos.

Odobenocetops peruvianus in Seitenansicht. Die rechte Zahnscheide des Schädels ist auf eine Filmdose gestützt. Etwa oberhalb der Zahn-Bruchstelle erkennt man die Augenhöhle.
Bild: Johannes Albers

Einen neuen Schädel derselben Art, des Peruanischen Walrosswals, beschrieb ein Team um Muizon im Jahre 1999 aus der gleichen Gegend. Dieses Stück gehört dem Staatlichen Museum für Naturkunde in Karlsruhe. Man interpretiert es als den Schädel eines Weibchens, während der Holotyp von 1993 als Männchen gedeutet wird.

Beim vermutlichen Weibchen sind die Hauer und ihre Scheiden auf beiden Seiten klein, aber links noch etwas kleiner als rechts. Zwar ist der linke Zahn innerhalb seiner Scheide abgebrochen, doch gehen die Forscher nun davon aus, dass die Zähne auf beiden Seiten äußerlich sichtbar wurden. Die starke Ausbildung des rechten Zahns beim Männchen gilt als sekundäres Geschlechtsmerkmal, ähnlich dem langen Zahn des Narwal-Männchens. Man schreibt ihm eine soziale Funktion zu.

Der Schädel

Odobenocetops peruvianus, Schädel von vorn oben. In der Mitte sieht man die runden Nasenöffnungen. Der Vorderrand des Mauls bildet ein umgekehrtes V.
Bild: Johannes Albers

Die Mundhöhle ist hoch aufgewölbt. Bei Odobenocetops peruvianus sieht die Umrandung des Gaumens von vorn aus wie ein umgekehrtes V. Der Vorderrand der Schnauze zeigt Ansatzstellen starker Muskeln, die auf eine kräftig entwickelte Lippe schließen lassen. Die Nahrungsaufnahme lief anscheinend ähnlich ab wie bei einem heutigen Walross: Das Tier suchte den Meeresboden nach Wirbellosen wie Muscheln ab. Die wurden von der Lippe erfasst und dann ausgesaugt. Dabei scheint die Zunge wie ein Kolben fungiert zu haben, und die abgeknickten Zahnscheiden wirkten wie ein Schlitten, mit dem das Tier über den Grund fuhr. Möglicherweise trug das Maul einen ausgeprägten Besatz mit Tasthaaren.

Mit der starken Lippe und den abgeknickten Zahnscheiden erinnert das Maul nicht nur an ein Walross, sondern auch an eine Seekuh (Dugong). Deshalb liegt es nahe, dass Christian de Muizon in der Erforschung dieser Wale mit dem Seekuh-Experten Daryl P. Domning zusammenarbeitet.

Bei typischen Walen sind die oberen Nasenöffnungen des Schädels weit nach hinten verlagert. Dadurch bedingt, treten Überschiebungen einzelner Schädelknochen auf (telescoping). Bei Odobenocetops sind die Öffnungen wieder merklich nach vorn gerückt und die Überschiebungen entsprechend zurückgebildet. Vor den Nasenöffnungen tragen andere Zahnwale ein fetthaltiges Gewebekissen (Melone), das mit der Fokussierung des Schalls bei der Echoortung in Verbindung gebracht wird. Bei Odobenocetops peruvianus ist es fraglich, ob dieses Organ überhaupt existierte. Bestenfalls kann es nur in verkümmerter Form seinen eng begrenzten Platz auf dem Schädel gefunden haben. Anscheinend hat diese Walart ihre Fähigkeit zur Echoortung verloren. Zur Beurteilung ihrer akustischen Systeme gehört jedoch auch der Befund, dass der äußere Gehörgang und die Mittelohrhöhle größer gewesen sein müssen als bei typischen Delphinartigen.

Einzelne Gehörknochen dieser Art besitzt auch das Staatliche Naturkundemuseum in Paris.

Die Augen waren 20 — 30 % größer als bei heutigen Delphinen üblich. Die Augenhöhlen sind in dem Winkel nach vorn und zur Oberseite des Schädels so ausgekerbt, dass die Gesichtsfelder beider Augen sich überschneiden konnten. Da die Forscher von einer Kopfhaltung ausgehen, die normalerweise etwas nach vorn geneigt war, ergibt sich eine stereoskopische Sicht in Schwimmrichtung. Ähnliche Verhältnisse zeigt das heutige Walross. Diese gute Sicht scheint ein Ersatz für die eingebüßte Echoortung gewesen zu sein.