Die grotesken Walrosswale von Peru: Odobenocetops

von Johannes Albers | cetacea.de | Essen | 16. September 2012

Odobenocetops leptodon

Holotyp von Odobenocetops leptodon im Staatlichen Museum für Naturkunde, Karlsruhe. Der Langzahn wurde kurz hinter seinem Austritt aus der Scheide künstlich abgetrennt und kann, wie hier, zu Demonstrationszwecken aufgesetzt werden. Vom Schädel sieht man die Unterseite.
Bild: Johannes Albers

1999 wurde der Fachwelt eine zweite Art der Walrosswale vorgestellt: Odobenocetops leptodon ist etwa eine Million Jahre jünger als die peruvianus-Art. Das heißt: O. leptodon lebte vor ca. 3 — 4 Millionen Jahren, und zwar in derselben Gegend wie die erste Art. Der Holotyp ist ein Schädel samt Atlas im Besitz des Museums in Karlsruhe. Das Pariser Museum besitzt Reste eines anderen Individuums, bei dem zwar der Schädel stark beschädigt ist, aber Teile der Wirbelsäule, der Rippen und der linken Brustflosse erhalten sind. In Paris befindet sich auch ein weiterer Gehörknochen, der wahrscheinlich dieser Art zugehört.

Ein fünfter geborgener Odobenocetops-Schädel wird ebenfalls zur leptodon-Art gestellt. Die komplette Körperlänge der Spezies schätzt man auf etwa 3 Meter.

Die Zähne

Odobenocetops leptodon, Schädel mit abgetrenntem Langzahn. Man beachte den Größenunterschied zwischen rechtem und linkem Zahnstumpf im Querschnitt. Deutlich wird auch die Geräumigkeit der Mundhöhle.
Bild: Johannes Albers

Die größte Überraschung beim Fund des leptodon-Holotyps war die Länge der Zähne des vermutlichen Männchens: Der kleine linke Zahn ist immerhin auf 25 cm Länge erhalten und dann erst an der Spitze abgebrochen, der große rechte Zahn misst beeindruckende 135 cm. Damit erinnert er nicht mehr an den Hauer eines Walrosses, sondern wirkt wie der umgeknickte „Stoßzahn“ eines Narwals. Man muss damit rechnen, dass der rechte Zahn auch bei O. peruvianus über einen Meter Länge erreichte.

In normaler Schwimmstellung zeigte der Zahn nach hinten. Damit muss ein leptodon-Männchen in etwa so ausgesehen haben, als trüge es einen Wanderstab über oder unter der Schulter. Durch eine Kopfbeugung drehte sich der Stab so die Flanke entlang, dass seine Spitze sich über die Rückenlinie erhob. Bei der Nahrungssuche am Meeresboden aber scheint das Tier den Kopf in die andere Richtung gezogen zu haben: nach hinten in eine Position, die bei anderen Tieren als normal gelten würde. Der Rumpf hing dabei in einem vertikalen Winkel zum Boden, so dass der Schwanz im freien Wasser schräg nach oben zeigte. So glitt die Schnauze am Grund entlang, und mit ihr der lange Zahn, der keinen Zahnschmelz trägt: Beim Karlsruher leptodon-Holotyp zeigt sich an der Spitze des Langzahns eine deutliche Schleifspur, die von der regelmäßigen Grundberührung Zeugnis gibt.

Schädel von Odobenocetops leptodon auf der Seite liegend, Blick auf die Front. Links ist die Oberseite. Rechts sieht man, wie der Vorderrand des Mauls ein umgekehrtes U bildet.
Bild: Johannes Albers

Die Asymmetrie der Zähne und ihrer Scheiden bei dem vermutlichen Männchen hatte noch mehr zur Folge: Zum Fressen musste das Tier sich oder seinen Kopf um die Längsachse etwas nach links drehen. Sonst wäre der lange Schmuckzahn einfach im Weg gewesen. Diese verdrehte Fressstellung wird im Bau der Schnauze wiederum ausgeglichen. „Was man doch alles für die Schönheit in Kauf nimmt“, meinte eine deutsche Frau dazu, „sogar schief zu fressen!“ Das symmetrischer gebaute (peruvianus-) Weibchen hingegen konnte ohne solche Rotation den Grund entlanggleiten.

Der Schädel

Die Saugkraft des Mauls bei O. leptodon muss noch größer gewesen sein als bei O. peruvianus. Die Umrandung des breiteren und noch höher aufgewölbten Gaumens sieht von vorn aus wie ein umgekehrtes U. Die Oberlippe hatte mehr Anheftungsfläche als bei O. peruvianus und trug vielleicht ebenfalls viele Tasthaare.

An der Schnauzenspitze sitzen rätselhafte Zusatzknochen. Sie sind auf der Oberseite des Schädels zwischen den Prämaxillae eingefügt und weiten sich an der Vorderseite der Schnauze aus. Zu ihrer anatomischen Interpretation gibt es verschiedene Hypothesen (Pränasalia, völlige Neubildungen oder evtl. Septomaxillae). Was immer sie sind, sie verbreitern jedenfalls das Maul.

Die Prämaxillae selbst zeigen mehrere Abweichungen gegenüber O. peruvianus und anderen Zahnwalen:

Die anderen Arten haben hier an der Oberseite große Öffnungen (Prämaxillarforamen) für Arterien und Nerven. Bei O. leptodon fehlen sie. Hier nehmen Adern und Nerven einen anderen Verlauf, den der Pariser leptodon-Schädel erkennen lässt: Sie zweigen sich auf und treten durch kleine Kanäle an der Vorderseite der Schnauze aus, andere Zweige an den rechten und linken Außenseiten der Schnauze.

Was die leptodon-Prämaxillae aber haben, die von O. peruvianus jedoch nicht, sind an der Oberseite bestimmte seichte Eintiefungen distal vor den Nasenöffnungen. So etwas kennt man von anderen Zahnwalen: Hier lagen die so genannten Prämaxillarsäcke. Sie sind ein Teil des komplizierten Luftsacksystems, das bei Zahnwalen die Melone umgibt. Aus dieser Struktur lässt sich schließen, dass O. leptodon eine Melone und damit eine Echoortung besaß, anders als O. peruvianus.

Dafür fehlt bei O. leptodon die auffällige Auskerbung der Augenhöhlen, die bei O. peruvianus das stereoskopische Gesichtsfeld als Ersatz für die Echoortung schuf. Offenbar setzten die beiden Arten unterschiedliche Akzente in der Sinneswahrnehmung.