Ohne Zähne im Oligozän – Paläogene Chaeomysticeti und ihre Erforschung

von Johannes Albers | cetacea.de | Essen | 20. September 2016

R. Ewan Fordyce, seine Mitarbeiter und neue Gattungen

Zwischen Marples und dem bereits mehrfach erwähnten Fordyce ist zunächst noch Frank Climo zu erwähnen, der 1975 berichtete, im Oligozän Neuseelands den Schädel und Unterkiefer eines zahnlosen Bartenwals gefunden zu haben. Von überragender Bedeutung ist dann aber Robert Ewan Fordyce:

Er lernte in Neuseeland zunächst Zoologie und wurde dann Paläontologe. Nach seiner Doktorarbeit 1978 an der Universität Christchurch folgten Forschungstätigkeiten in Amerika und Australien. 1982 trat er an der Universität von Otago (Abb. 10) in die Tradition der oben behandelten Vorgänger. Heute ist er einer der bedeutendsten Wal-Paläontologen der Welt und befasst sich zugleich auch mit heutigen Walen.

1978 behandelte er zwei Funde von Bartenwalen aus dem frühen Oligozän des Nordens von Neuseelands Südinsel. Das erste Tier zeigt an der Unterseite seiner langen, breiten Schnauze bereits deutliche Rillen im Knochen, die auf den Besitz von Barten hindeuten. Eine nähere systematische Einordnung dieser Walart hielt Fordyce zunächst offen.

Von dem zweiten Tier kennt man nur ein hinteres Schädelstück, das ein besonders primitives Merkmal aufweist: Die Schädeldecke des Hinterhauptes erstreckt sich mit ihrer Spitze noch nicht weiter nach vorn als bis zum Hinterrand der Schläfengrube. Selbst „Mauicetuslophocephalus ist hierin schon weiter fortgeschritten. Bei heutigen Bartenwalen zieht sich dieser Knochen auf dem Schädeldach weit nach vorn.

Seit den späten 80er Jahren wird systematisch der Kokoamu-Grünsand abgesucht, in dem schon Marples fündig gewesen war. So meldete Fordyce 2006 aus der Gegend des Waitaki-Tals neue oligozäne Bartenwale. Sie stammen teils aus dem Grünsand, teils aus dem darüber liegenden Otekaike-Kalkstein, der ebenfalls abgesucht wird. Die Grenze zwischen beiden entspricht einem Alter von ca. 26 Millionen Jahren. Nahe Duntroon hat Fordyce mit diversen Helfern einen Bartenwal halb freigelegt und dann mit Plexiglas vor Wettereinflüssen geschützt. So können Besucher auf einem Lehrpfad das Fossil und seine Einbettung im Kokoamu-Grünsand direkt am Fundort bewundern. In Duntroon selbst schufen Fordyce und seine Mitstreiter das Vanished World Centre als Museum, in dem u.a. Walfossilien ausgestellt werden. So kümmern sie sich um Volksbildung und Touristenattraktionen.

Auch die wissenschaftliche Erforschung der neuseeländischen Funde betreibt Fordyce nicht im Alleingang, sondern im Rahmen eines umfangreichen Doktoranden-Programms. Dabei weilte z.B. 2009 – 2013 der Österreicher Felix G. Marx bei ihm und befasste sich mit der Stammesgeschichte der Bartenwale. 2010 half er bei der Ausgrabung eines neuen Walfossils aus der „Mauicetus-Gruppe“. Für die Erforschung u.a. dieser Gruppe besonders wichtig wurde der amerikanische Doktorand Robert W. Boessenecker.

Boessenecker befasste sich als Student mit Fossilien von der Küste Kaliforniens und erwarb 2011 den Master-Grad in Montana. Danach kam er in Begleitung seiner Frau zu Fordyce, wo er 2015 eine Doktorarbeit über fossile Bartenwale abschloss. Früchte dieser Arbeit sind Publikationen, in denen er zusammen mit Fordyce mehrere Fragen rund um die „Mauicetus– Gruppe“ klären konnte.

Tokarahia

Greifen wir zunächst Marples ́ „Mauicetuslophocephaluswieder auf: Mitte der 1990er Jahre grub Fordyce mit seinen Leuten ein etwas jüngeres Fossil aus dem Otekaike-Kalkstein aus, das aber dem „Mauicetuslophocephalus ähnlich sah. Nachdem die Familie Eomysticetidae aufgestellt war, konnte man ihr diesen neuen Fund zuordnen. So hatte Fordyce auch den „Mauicetuslophocephalus bereits 2006 als einen Eomysticetiden erkannt. Den neuen Fund mit einem 1,95 Meter langen Schädel samt Unterkiefer und Ohrknochen, Wirbeln, Rippen, Brustbein und Armknochen beschrieb er 2015 zusammen mit Boessenecker als neue Gattung und Art Tokarahia kauaeroa. Benannt ist sie nach der Ortschaft Tokarahi. Fordyce grub aber auch ein Fossil aus, das von den erhaltenen Resten des „Mauicetuslophocephalus praktisch nicht zu unterscheiden war. Deshalb wurde es dieser Art zugeordnet. Die ganze lophocephalus-Art aber stellten Boessenecker und Fordyce 2015 mit in ihre neue Gattung Tokarahia (Abb. 11). Damit war aus Marples ́ Cetotheriide Mauicetus lophocephalus der Eomysticetide Tokarahia lophocephalus geworden.

Da zu dem neuen lophocephalus-Fund aber auch ein stiftförmiger Zahn gehört, geht man heute von einer rudimentären Bezahnung aus, die bei Eomysticetidae nun nicht mehr als ungewöhnlich gilt. Die beiden Tokarahia-Arten lebten zeitgleich und lassen sich durch Merkmale der Ohrknochen und der Knochenüberschiebungen am Schädel klar voneinander unterscheiden. Die Knochen der Schnauze sind z.T. nur lose miteinander verbunden, wie es bei heutigen Bartenwalen noch ausgeprägter der Fall ist. Isotopen-Untersuchungen deuten darauf hin, dass es bereits eine Nord-Süd-Wanderung gab, wie sie noch heute vielen Bartenwalen eigen ist.

Tohoraata

Erinnern wir uns nun an Marples ́ „Mauicetuswaitakiensis:
 Auch diese Art erkannte Fordyce bereits 2006 als einen Vertreter der Eomysticetidae. Auch in diesem Fall kam die Entdeckung einer anderen, ähnlichen Art zu Hilfe: Fordyce und seine Mitarbeiter Andrew Grebneff (mittlerweile verstorben), Richard Köhler und Craig Jenkins gruben 1993 einen Bartenwal fünf Kilometer von Duntroon entfernt im Otekaike-Kalkstein aus. Sie fanden einen Teil des Schädels mit den rechten Ohrknochen, einen Teil des Unterkiefers, einen Wirbel und fünf Rippen. Das lebende Tier war vor ca. 25 – 26 Millionen Jahren etwa so lang gewesen wie ein heutiger Zwergwal (Balaenoptera acutorostrata), aber schlanker geformt. Boessenecker und Fordyce stellten es 2014 zunächst online als eine neue Art und Gattung der Eomysticetidae vor: Tohoraata raekohao. Der Gattungsname bedeutet in der Maori-Sprache etwa „Wal des Morgengrauens“, der Speziesname etwa „Löcher in der Stirn“ und bezieht sich auf eine Ansammlung von Durchtrittsöffnungen für Arterien im Stirnbein. Der künstlerisch begabte Robert Boessenecker malte ein Lebensbild des Kopfes und projizierte die erhaltenen Teile von Schädel und Unterkiefer hinein (Abb. 12).

Nach der Morphologie des Hinterhauptes und des Tympanicums kann dieses Tier ein Nachkomme des 26 – 27 Millionen Jahre alten „Mauicetuswaitakiensis sein. Deshalb wurde letzterer von Boessenecker und Fordyce ebenfalls in die Gattung Tohoraata gestellt. Diese beiden Tohoraata-Arten waren 2014 die ersten Eomysticetidae der Südhalbkugel, die formell beschrieben und benannt wurden.

Waharoa und ein Glattwal

Nach Tohoraata und Tokarahia stellten Boessenecker und Fordyce 2015 noch Waharoa als weitere neue Gattung der Eomysticetidae auf:
Wichtigste Grundlage dafür ist das Teilskelett eines Wals mit einem 1,83 Meter langen Schädel. Aus dem Otekaike-Kalkstein ausgegraben wurde er von Fordyce und seinen Mitarbeitern 1989 fünf Kilometer von Duntroon entfernt. Sein geologisches Alter wird auf 25,2 – 27,3 Millionen Jahre eingegrenzt. Diese neue Art, im Leben 5 – 6 Meter lang, heißt Waharoa ruwhenua. Der Gattungsname bedeutet in der Maori-Sprache Langmund und weist auf die langgestreckte Schnauze hin, typisch für Eomysticetidae. Der Speziesname bedeutet auf Deutsch Erdbeben, ein Hinweis auf die Fundstelle mit dem Namen The Earthquakes.

An anderen Fundstellen gruben Fordyce und seine Kollegen 1990 und 1992 zwei jugendliche Teilskelette derselben Art aus. Sie wurden bei der Beschreibung von Waharoa ruwhenua als sogenannte Paratypen mit herangezogen und repräsentieren unterschiedliche Altersstufen. So ergibt sich der Glücksfall einer ontogenetischen Reihe, aus der man Gestaltänderungen im Verlauf der individuellen Lebensgeschichte ableiten kann. Die relative Länge der Schnauze nimmt vom Jungtier bis zum Erwachsenen zu. Die Forscher stellen auch einen isolierten kleinen Ohrknochen (Bulla tympanica) zu ihrer neuen Art und erwägen, dass dieses Skelettelement bei Waharoa-Jungtieren womöglich noch deutlicher weitergewachsen ist als bei heutigen Walen, deren Bullae bei der Geburt schon praktisch fertig entwickelt sind. Die Tendenz zur heutigen Situation zeichnet sich freilich auch schon bei Waharoa ab.

Barten trug diese Art offenbar nur in den hinteren Dreivierteln des Mauls, da sich nur in diesem Bereich Spuren entsprechender Versorgungsgefäße finden. Im vorderen Viertel hingegen tragen Ober- und Unterkiefer Zahnhöhlen, die auch im erwachsenen Zustand noch gut ausgeprägt sind. Deshalb rechnet man hier mit rudimentären Zähnen. Tatsächlich gefunden hat man sie aber nicht. Darum bieten Boessenecker und Fordyce zwei mögliche Rekonstruktionen von Waharoa ruwhenua an, einmal mit Zähnen und einmal ohne (Abb. 13).

Sie vermuten, dass Waharoa beim Schwimmen das Wasser ähnlich nach Futter durchsiebt hat wie heutige Glattwale, etwa der Grönlandwal. Dabei sieht Fordyce im Oligozän Neuseelands neben Eomysticetoidea wie Waharoaauch bereits die Überfamilie Balaenoidea vertreten, in der heute die Glattwale (Balaenidae) mit verschmolzenen Halswirbeln leben. Er verweist auf einen kleinen Balaeniden aus dem Kokoamu-Grünsand der Waitaki-Region als Urform. Dessen Schnauze ist zwar nur fragmentarisch erhalten, doch der Hinterschädel lässt auf ein gebogenes Rostrum schließen, ähnlich heutigen Glattwalen. Bei den Ohrknochen ist das Perioticum noch sehr urtümlich, während das Tympanicum bereits moderner wirkt. (Ein weiteres, isoliert gefundenes Perioticum könnte von einem Artgenossen stammen.) Die Halswirbel sind zwar verkürzt, aber noch nicht verschmolzen. Erhalten sind auch Brust- und Lendenwirbel sowie Rippen. Der Fund ist etwa 28 Millionen Jahre alt und verlängert die zuvor bekannte Linie der Glattwale um über 5 Millionen Jahre weiter in die Vergangenheit. Die Glattwale reichen also bis in alttertiäre Zeiten zurück.

Somit sind im Oligozän Neuseelands Eomysticetoidea, Balaenoidea und Balaenopteroidea (nämlich mit Mauicetus parki) vertreten.

Horopeta

Vorläufig unklar ist die systematische Stellung eines zahnlosen Bartenwals aus dem Kokoamu-Grünsand, dessen Fressmethode bereits an heutige Furchenwale und damit an die Überfamilie Balaenopteroidea erinnert. Denn er nahm wohl (als frühster bekannter Wal) einzelne Riesenhappen an Wasser ins Maul, deren Nahrungsgehalt er dann herausfilterte. Er gehört selbst aber weder zu den Furchenwalen, noch zu den Eomysticetidae und auch nicht zu den Glattwalen. Fordyce und seine Mitarbeiter gruben ihn 1988 aus. Beschrieben wurde er 2015 von Doktorand Cheng-Hsiu Tsai und Ewan Fordyce als neue Gattung und Art Horopeta umarere.

Dieser Wal lebte vor höchstens 27 Millionen Jahren und war 6,50 – 7,50 Meter lang. Von oben oder unten betrachtet, wölben sich die Unterkiefer nach außen und vergrößern so den Mundraum. Die Kronenfortsätze der Unterkieferknochen richten sich rückwärts und nach außen, wie man es sonst nur bei Furchenwalen kennt. Für die Beschreibung des Horopeta– Skeletts mussten Tsai und Fordyce sieben neue anatomische Begriffe einführen, dabei allein sechs in der Abhandlung der Ohrknochen, die z.T. sehr ungewöhnlich gestaltet sind.

Ungewöhnlich ist auch das Brustbein (Abb. 14). Genau das besagt in der Maori-Sprache der Name umarere. Der Knochen ist nicht abgeflacht wie bei heutigen Bartenwalen, und er zeigt rechts und links je mehrere Anheftungsstellen für Rippen (oder Rippenknorpel). Heutige Bartenwale haben nur noch je eine. Horopeta umarere zeigt sich also im Brustbein sehr urtümlich, im Maul sehr fortschrittlich und im Ohr einfach abweichend von anderen Walen.

Kompliziertes Oligozän

Boessenecker und Fordyce legten 2014 auch zunächst online eine Studie vor, die belegt, wie der Holotyp-Schädel von Waharoa ruwhenua von knochenfressenden Osedax-Würmern durchlöchert wurde, wobei die Würmer wiederum von Fischen gefressen wurden, wie Zahnspuren an den betreffenden Knochenstellen verraten. So öffnet sich durch die Beschädigung der Walknochen auch ein weiteres Fenster zur Ökologie des oligozänen Meeres.

Dabei ist in der Paläocetologie gerade das Oligozän eine besonders anspruchsvolle Epoche:
Denn offenbar fand im frühen Oligozän eine rasante Radiation der Wale statt. Aber in der Zeit vor etwa 29 – 30 Millionen Jahren sank der Meeresspiegel, was zu einem Mangel an Walfossilien führte: Entweder gab es im schrumpfenden Meer weniger Möglichkeiten zur küstennahen Einbettung, oder fossilhaltige Sedimente fielen trocken, so dass Mutter Natur die Fossilien durch Wind und Wetter wieder zerstören konnte. Zudem sind gerade seit dieser Zeit die Osedax-Würmer belegt, die Walreste tief am Meeresgrund beseitigen, bevor sie fossil werden können. So blieb insgesamt für die heutigen Forscher nicht allzu viel übrig. Im oberen Oligozän aber stieg der Meeresspiegel wieder und flache Schelfbereiche wurden überspült. Aus dieser Zeit gibt es plötzlich so zahlreiche Walreste, dass viele davon noch unbearbeitet und unbenannt in den Magazinen der Museen ruhen. Oft sehen sie aber schon ganz anders aus als die Tiere vor dem Überlieferungsengpass. Deshalb gibt es in der Erforschung der Wale gerade des Oligozäns und in der Rekonstruktion ihrer Evolution noch viel zu tun!