Wale können sich nicht wehren

von | | | 11. Januar 2006

Wale im Eismeer

Anders als die meisten Wale, die zur Geburt und Aufzucht ihrer Kälber wärmere Gefilde aufsuchen, ist der Grönlandwal im Eismeer zu Hause. Im Winter lebt er so weit südlich, wie es die Eisgrenze erlaubt, und im Sommer so weit nördlich, wie Sonne und Tauwetter das Eis in Schach halten. Dank ihrer hohen Produktivität sind die polaren Meere eine Art Schlaraffenland für große Tiere. Aufsteigende Strömungen bringen nährstoff- und mineralienhaltiges Wasser an die Oberfläche, und die intensiven Sonnenstrahlen, die dank der Mitternachtssonne rund um die Uhr für Photosynthese sorgen, bringen die Primärproduktion auf Touren. Von der Phytoplanktonblüte profitiert das Zooplankton und, im weiteren Verlauf der Nahrungskette, auch die anderen Tiere des Meeres.

Entscheidend für die Wale der Polarmeere ist, dass Treib- und Packeis noch Fahrrinnen aufweisen und die Eisdecke nicht viel dicker ist als 30 cm. Solange kann der »Polarwal« sie noch mit seinem klobigen Kopf und Rükken durchstoßen und sich Atemlöcher verschaffen. Dabei hilft ihm, wie auch den beiden arktischen Gründelwalen (Monodontidae) Weißwal (Delphinapterus leucas) oder »Beluga« und Narwal (Monodon monceros), die fehlende Rückenfinne. Ein solcher Gewebelappen auf dem Rücken, wie ihn schnell schwimmende Furchenwale oder Delfine als Stabilisator tragen, würde beim Manövrieren in und unter dem Eis Verletzungsgefahr mit sich bringen. Wissenschaftler vermuten, dass Grönlandwale auf ihren Wanderungen mit einem Stakkato modulierter Töne im Frequenzbereich um 50–300 Hz ihre Umgebung, die Eisdecke und –dicke akustisch abtasten. Und das derartig präzise, dass sie sich höchst selten vernavigieren.

Ein weiteres Kriterium für die »höchste Eisklasse« erfüllt die dicke Speckschicht, die nicht nur als Reserve für schlechte Zeiten, sondern auch der Thermoisolierung der warmblütigen Säugetiere dient. Immerhin kann es einem gut genährten Wal in seinem Speck auch im Eiswasser, z.B. aus Paarungseifer, zu heiß werden. Dann verschafft seine Schwanzflosse oder »Fluke« Abhilfe. Sie ist ohne Speck und kann unter Blutzufuhr nach dem Prinzip eines Wärmeaustauschers Wärme nach außen abgeben und die Körpertemperatur herunterregeln. Gleichermaßen kann das Blutgefäßsystem mit seinem »Rete mirabile« oder »Wundernetz« so geschaltet werden, dass kaum Wärme verloren geht. Nach dem gleichen Prinzip betreiben auch Robben und Pinguine z.B. über ihre Extremitäten und andere nackte Stellen Thermoregulierung. Das Problem der Polartiere ist weniger, sich warm zu halten als überschüssige Hitze loszuwerden. Alle 5–15 min kommt ein Grönlandwal an die Oberfläche zum Atmen – zum Blasen. Er kann aber auch 40 min lang tauchen, zum Beispiel, wenn eine besonders gehaltvolle Planktonwolke lockt. Besonders tief muss er nicht nach unten. Das verlangt sein Nahrungserwerb nicht. Wie alle mit Lungen atmenden Säugetiere muss er wieder hoch, muss atmen. Untrüglich steht sein »Blas«, seine unter hohem Druck ausgeatmete und kondensierende Atemluft, über dem Meeresspiegel. Doch der Blas der Grönlandwale, sechs Meter hoch und – spezifisch für Glattwale – zweigeteilt, ist fast überall verflogen.