Owen Chase (2000): Der Untergang der Essex.

von | | | 29. Mai 2000

Chase, Owen (1999): Der Untergang der Essex (Originaltitel Narrative of the Most Extraordinary and Distressing Shipwreck of the Whaleship Essex of Nantucket). Erste Auflage. Übersetzung: Michael Benthack. 148 Seiten. Fester Einband. 10 Abbildungen in schwarzweiß, eine Karte mit den Reiserouten der Essex und ihrer Walboote. Verlag Die Hanse. ISBN: 3-434-52565-3, Preis: 18.50 EUR.
Chase, Owen (1999): Der Untergang der Essex (Originaltitel Narrative of the Most Extraordinary and Distressing Shipwreck of the Whaleship Essex of Nantucket). Erste Auflage. Übersetzung: Michael Benthack. 148 Seiten. Fester Einband. 10 Abbildungen in schwarzweiß, eine Karte mit den Reiserouten der Essex und ihrer Walboote. Verlag Die Hanse. ISBN: 3-434-52565-3, Preis: 18.50 EUR.

Buchbesprechung von HANS-JÜRGEN MÄGERT
Hochschule Anhalt (FH), FB Angewandte Biowissenschaften und Prozesstechnik

Nantucket/Neuengland, 12. August 1819: Der dreimastige, bis dahin als glückliches Schiff geltende Walfänger Essex sticht unter der Führung von Kapitän Georg Pollard junior in See, um in einer voraussichtlich etwa zweieinhalb Jahre dauernden Fahrt im Stillen Ozean Wale zu jagen. Es soll die letzte Fahrt der Essex werden, denn am 20. November 1820 wird sie mehr als tausend Meilen in westlicher Richtung von den Galapagosinseln entfernt von einem riesigen Pottwal derart gerammt, dass ein großes Leck im Schiff entsteht und es als Folge sinkt. Die zwanzigköpfige Besatzung rettet sich in drei, für die direkte Jagd auf Wale verwendete, kleine Walboote und hat von nun an eine mehr als 5000 Kilometer lange und rund drei Monate dauernde Odyssee vor sich, die sie an die Grenzen ihres Leistungs- und Durchhaltevermögens bringt. Nur acht Mann überleben am Ende die Katastrophe.

Einer von ihnen, der erste Offizier Owen Chase, führte eines der Walboote. Schon kurze Zeit nach seiner Rettung verfasste er ein Buch, in dem die Ereignisse aus seiner eigenen Sicht geschildert sind und das bereits fast genau ein Jahr nach dem Untergang der Essex, nämlich am 22. November 1821, in den Läden Nantuckets zum Verkauf auslag. Dieses Buch (Titel siehe oben) wurde im Jahr 1999 erneut von Iola Haverstick und Betty Shephard bei Harcourt Brace herausgegeben und erschien im letzten Jahr (2000) erstmals in der Deutschen Übersetzung im Verlag Die Hanse.

Chase beginnt das Werk mit einer knappen Beschreibung der amerikanischen Walfanghochburg Nantucket und dem damaligen Walfängermilieu um dann die Geschehnisse seit dem Auslaufen der Essex in chronologischer Reihenfolge darzustellen. Obwohl an einigen Stellen ein deutliches Pathos an die Oberfläche tritt, bedient sich Chase doch größtenteils einer nüchternen, sachlichen Sprache, die vollkommen ausreicht, da die tatsächlich stattgefundene Geschichte an sich schon dramatisch genug ist. Das Unglück begann, nachdem die Essex durch eine erfolgreiche Jagd vor den Küsten Chiles und Perus bereits 800 Fässer Tran eingebracht hatte und daraufhin Kurs in Richtung der Galapagosinseln nahm.

In mehr als 1000 Meilen westlicher Entfernung von diesen Inseln begannen die Männer am 20. November 1820 die Jagd auf eine Gruppe gesichteter Pottwale, als etwas vollkommen überraschendes und unerwartetes geschieht: Ein gigantischer, ca. 28 m großer Pottwalbulle1 löst sich aus der Gruppe und rammt die Essex anscheinend in voller Absicht gegen ihre Fahrtrichtung zweimal derart, das ein großes Leck im Bug entsteht, welches das Schiff zum Sinken bringt. Die Männer retten sich auf drei kleine Walboote, bringen Masten und Segel an, erhöhen die Bordwände, retten an Proviant alles, was noch zu retten und transportieren ist, von der Essex und beginnen eine lange Fahrt in der Hoffnung, die ferne rettende Westküste Südamerikas zu erreichen.

Owen Chase
Owen Chase

Es würde den Rahmen dieser Besprechung sprengen, sämtliche dramatischen Ereignisse, die sich während dieser Fahrt begeben haben, aufzulisten, aber ein kleiner Eindruck soll im folgenden vermittelt werden: Das größte Problem stellte natürlich der stark begrenzte Proviant dar. Die Männer mussten mit einem Viertelliter Wasser und einem Pfund Schiffszwieback pro Tag auskommen, der später sogar auf eine Ration von nur 40 g gekürzt wurde. Dass bei dieser Rationierung körperliche Arbeit kaum noch möglich war, versteht sich von selbst. Die Tatsache, dass sich die drei Walboote nach fast zwei Monaten Fahrt aus den Augen verloren, war der allgemeinen Moral auch nicht gerade zuträglich. Owen Chase schildert weiterhin, wie die Männer durch Salzwasser verdorbenen Schiffszwieback essen mussten, ihren Durst durch das Trinken von Schildkrötenblut und dem eigenen Urin zu lindern versuchten und wie sie in ihrer Verzweiflung Fliegende Fische und an ihrem Boot befindliche Muscheln roh verschlangen. Sein Boot wird weiterhin von einem großen Mörderfisch und einem Hai attackiert und die Besatzung versucht vergeblich, Delfine zu fangen.

Schließlich geschieht etwas unfassbares: Man entscheidet sich, einen gestorbenen Kameraden aus Gründen des eigenen Überlebens zu verzehren. Aus dem selben Grund wird in einem anderen, von Kapitän Pollard geführten Walboot sogar ein Mann erschossen. Unmittelbar vor der kompletten Resignation werden die Überlebenden aus den Walbooten von Owen Chase und Georg Pollard am 18. bzw. 23. Februar 1821 doch noch von den Schiffen Brigg Indian und Dauphin vor der Küste Chiles entdeckt und an Bord genommen. Drei freiwillig auf der während der Irrfahrt entdeckten Insel Henderson Island zurückgebliebene Besatzungsmitglieder können später ebenfalls noch gerettet werden.

Um es noch einmal zu betonen: All das hat sich tatsächlich zugetragen. Die Schilderungen von Owen Chase inspirierten seinerzeit sogar Herman Melville zu dem literarischen Weltklassiker Moby Dick oder der Wal. Erst kürzlich fand ich auch in dem 1935 erschienenen Buch Auf Walfang und Robbenjagd in Südgeorgienvon Erich Dautert eine Erwähnung der Tragödie um die Essex. Das vorliegende Buch stellt somit ein Dokument dar, das uns einen intensiven Eindruck einer Zeit und eines Milieus vermittelt, das Lichtjahre von der bequemen Lebensweise und dem Lebensstandard entfernt ist, dessen sich die BürgerInnen moderner Industrienationen heutzutage erfreuen dürfen. Es wird zudem sehr aufschlussreich durch eine Einleitung von Gary Kinder, einem Nachwort von Iola Haverstick und Betty Shephard, einem Glossar und einer kurzen Chronologie der Ereignisse ergänzt.

Bei allem Respekt vor den seemännischen Leistungen Owen Chases kann man sich jedoch des Eindrucks nicht erwehren, dass er sich in seiner Schilderung um eine überaus vorteilhafte Darstellung der eigenen Person bemüht. Obwohl er Kapitän Pollard nie direkt angreift oder abwertet, hat man zwischen den Zeilen stets den Eindruck, dass Owen Chase derjenige von beiden ist, der das größere Maß an Entschlossenheit und Initiative zeigt. Es erscheint auch merkwürdig und unplausibel, dass sich unter den Verstorbenen der Besatzung der Essex ein übermäßig hoher Anteil an Schwarzen befindet. Natürlich ist hierzu keine Erklärung in Owen Chases Darstellung zu finden. In das Nachwort hat sich zudem ein Fehler eingeschlichen: Das jüngste Besatzungsmitglied der Essex, Thomas Nickerson, starb nicht im Jahr 1833, sondern frühestens in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts, da er in dieser Zeit noch eine Pension in Nantucket betrieb. Allen LeserInnen, die an einer umfassenden Darstellung der damaligen Ereignisse interessiert sind, möchte ich die Lektüre des von Nathaniel Philbrick verfassten, hervorragend recherchierten und im letzten Jahr (2000) erschienenen authentischen Romans Im Herzen der See dringend empfehlen. Abschließend sei erwähnt, dass Owen Chase im Jahre 1868 für geisteskrank erklärt wurde, wohl eine späte Folge seiner Erlebnisse nach dem Untergang der Essex. Bis zu seinem Tod im Jahre 1869 versteckte er Lebensmittel in seinem Zimmer, um nie mehr wieder hungern zu müssen.

Fazit: Das von Owen Chase verfasste Buch Der Untergang der Essex stellt allein aufgrund der tatsächlich stattgefundenen außergewöhnlichen Ereignisse ein faszinierendes Zeitdokument dar und ist daher allen Wal- und Walfang-interessierten LeserInnen (und nicht nur diesen) bestens zu empfehlen. Ich gehe davon aus, dass die meisten BesucherInnen dieser Page das Privileg genießen, sich für den Schutz der Wale bzw. der Natur allgemein einsetzen zu können und den Walfang ablehnen. Dennoch kommt man nicht umhin, den in dem Buch erwähnten und unter anderen Umständen groß gewordenen Männern für ihren Mut, ihre Moral, Disziplin sowie ihre seemännischen Fähigkeiten größten Respekt zu zollen.

 


Anmerkung:
Ein 28 Meter langer Pottwal mutet unglaublich an. Der grösste vermessene Pottwalbulle ist 1950 vor den Kurilen (Nordwestpazifik) von einem sowjetischen Walfänger erlegt worden und war 20,7 Meter lang. Dieser Tage werden die Pottwalbullen kaum grösser als 18 Meter. Pottwalkühe werden maximal 12 Meter lang.
Es ist anzunehmen, dass es im 19 Jahrhundert Pottwalbullen gab, die grössere Körperlängen erreichen konnten. Diese gewaltigen Tiere dürften zu den begehrtesten Zielen der Walfänger gehört haben. Ob nun Längen um 23 bis 25, oder gar die erwähnten 28 Meter erreicht wurden, bleibt fraglich.

Quelle: GAMBELL, R. (1995):
Physeter catodon Linnaeus, 1758 – Pottwal.
in: ROBINEAU, D., R. DUGUY und M. KLIMA (Hrsg.):
Band 6: Meeressäuger, Teil I: Wale und Delphine-Cetacea, Teil IB: Ziphiidae, Kogiidae, Physeteridae, Balaenidae, Balaenopteridae.
Aula Verlag, Wiesbaden

Haben Sie Ergänzungen zu diesem Text? Oder eine ganz andere Meinung? Dann schicken Sie uns einen Leserbrief, den wir an dieser Stelle veröffentlichen werden.