Ein Pottwal an der Kunsthochschule

von | | | 10. Januar 2007

Die Geschichte des Leipziger Walskelettes

Ingo Garschke
Prof. für Künstlerische Anatomie und Zeichnerisches Naturstudium
Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig

Vortrag am 10. Januar 2007 an der Tierärztlichen Hochschule Hannover in der „Alten Apotheke“

Das unmontierte Walskelett am 11.03.2004, Photo: Julius Popp, Leipzig / Hochschule fuer Grafik und Buchkunst

Ankündigung
Der Vortrag berichtet von der außergewöhnlichen Präparation eines 2002 an der Nordsee gestrandeten Pottwals durch Studenten der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig. Das montierte Skelett befindet sich heute im Anatomieraum der Leipziger Kunsthochschule und dient als Anschauungsobjekt für das künstlerische Naturstudium. Ausgehend von den Erfahrungen der Entfleischung und Knochenmontage werden nicht nur Aspekte der Anatomie, sondern auch die Kultur- und Kunstgeschichte der Wale beleuchtet.

Zusammenfassung
Was macht ein Pottwalskelett an einer Kunsthochschule? Was macht das Fach Anatomie an einer Kunsthochschule? Anatomieunterricht für Künstler gibt es nur noch in Dresden, Berlin-Weißensee und Halle, aber nicht mehr in den alten Ländern. Die Hinwendung zur organischen Welt sollte Grundlage in der Ausbildung sein.

Das Leipziger Pottwalskelett ist das Flaggschiff der anatomischen Sammlung der Hochschule für Graphik und Buchkunst und schiebt eine breite Schneise für das Naturstudium. Im Fahrwasser dieses kolossalen Knochengebildes werfen sich immer wieder Fragen zur Anatomie und Kulturgeschichte der Wale auf. Pottwale sind die eigenartigsten Vertreter ihrer Ordnung und unter den Säugetieren am weitesten in für uns ferne Welten abgetaucht. Ihre spezielle Anatomie und Physiologie ermöglicht es diesen Walen eine für Säugetiere extreme Lebensweise zu führen. In Bezug auf den Körperbau und die Tauchleistung der Pottwale gibt es aus zoologischer Sicht nichts vergleichbares und die Wissenschaft steht noch vor einem Rätsel.

Ingo Garschke bei der Zerlegung des Wals

Die Knochen können nicht Auskunft geben über alle Fragen der Morphogenese, doch sind sie ein solider Betrachtungsgegenstand und darüber hinaus Teil des Gestaltganzen. Am Skelett ist nicht nur die Art des Tieres erkennbar, sondern auch seine Individualität und Entwicklungsgeschichte. Er ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Merkwürdigkeit, die für die folgenden Exkurse Anstoß geben soll. Für viele Menschen ist der Pottwal der Wal schlechthin. Seine unverwechselbare Gestalt mit dem markanten Kastenkopf und der langen Reihe blitzender Unterkieferzähne ließen ihn über die Jahrhunderte hinweg als schrecklichen Leviathan, als Monstrum horrendum der Tiefsee erscheinen. Ein Pottwal lässt sich leichter durch das charakterisieren, was ihn von anderen Walen und anderen Tieren unterscheidet, als durch seine Ähnlichkeit mit ihnen.

Lichtquelle Pottwal

Aus anatomischer Sicht ist bisher der macrocephalus, so ist der wissenschaftliche Name, Großkopfwal eigentlich, ein Unicum, ein Geschöpf voller Superlative, Widersprüche und Anomalien. Seine einzigartige Gestalt und Lebensweise macht ihn zu einem Mysterium. Mit einer Tauchtiefe bis über 2000 Meter entzieht sich dieses Wesen unserem Zugang. Was wir an Lebenswirklichkeit mit ihm und den anderen Walen teilen, beschränkt sich auf die Augenblicke des Atemholens. Interessant an diesem Zusammenhang ist, dass uns ein Geschöpf, das in absoluter Dunkelheit der Tiefsee lebt und sich dort wie eine Fledermaus mit Echolot orientiert, über Jahrhunderte die wichtigste Lichtquelle lieferte. Die aufstrebenden Lichterstädte der alten und neuen Welt des 19. Jahrhunderts beleuchteten ihre Manufakturen, Straßen, Bergwerke und Salons mit dem Tran und Kerzen aus Walöl speziell eben auch aus Walratöl. Melville hat in diesem Licht Moby Dick geschrieben und Darwin möglicherweise seine Evolutionstheorie.

Kampf um die größte Masse Leben

Die Polarität zwischen der Rohstoffquelle und ihrer Mündung bzw. Verwendung könnte kaum größer sein. Zumal die Jagd auf den Wal bis 1870 auf archaische Weise ausgetragen wurde. Um 1870 wurde die Harpunenkanone erfunden, Vorher hat man noch mit der Handharpune gejagt. Mit Handfeuerwaffen war diesem Koloss nicht beizukommen. Und so schleuderte man die Harpune nicht anders als die eiszeitlichen Mammutjäger in den Rücken eines riesigen Tieres, um es, nach zähem Kampf ermüdet, mit vielen Lanzenstichen zu töten. Ein in die Fallgrube geratener Höhlenbär, der von Neandertalern mit Steinen erschlagen wird, stirbt einen ähnlich langsamen Tod. Der Walfang beschreibt den Kampf um die größte Masse Leben, die je in einer Tiergestalt, je in einem Tierkörper zur Gestalt geworden ist. Aber über den Walfang ist an anderer Stelle schon viel gesagt worden und auch wenn das Thema dringlich ist, soll es hier nur am Rande erwähnt sein.

Von der anatomischen Fundgrube zur Wiederentdeckung des Gestaltganges

Ausgangspunkt des heutigen Vortrages ist die Folgegeschichte eines 2002 an der Nordsee gestrandeten Pottwales. Es geht um die Verwertung eines 30 Tonners, die Ausbeute einer anatomischen Fundgrube, die Grabung in verwesendem Fleisch, das Freilegen der widerständigen Knochen, das Heimbringen der Beute ins sächsische Binnenland, den tranigen Weg der Knochenentfettung, die Skelettmontage und die Wiederentdeckung des Gestaltganges.

Ein Walskelett ist ein Phänomen ganz besonderer Art und eine Kuriosität mit großer Strahlkraft. Interessant in diesem Zusammenhang ist, daß das Wort Kuriosität sich von curiositas ableitet. Die Wissenschaftshistorikerin Dian Lasden führt aus, dass der Begriff curiositas aus dem Spätlatein der mittelalterlichen Gelehrten stammt und für vielerlei stand. Einesteils für die Neugier, gleichsam wie für das Objekt, für die Wissbegierde, gleichsam wie für das Seltsame und Ungewöhnliche. Nur letztere Deutung ist im deutschen Wort Kuriosität enthalten. Im 16./17. Jahrhundert wurde curiositas of mit admiratio, dem Staunen in Verbindung gebracht. Für Descartes war es die grundlegende Passion welche die Neugier zur Erkundung anstachelte. In der frühen Neuzeit galten dann auch Menschen, die sich über nichts wunderten, als ignorant, heute würde man sie vielleicht als „cool“ bezeichnen. Die Betrachtung eines Walskelettes, ob aus wissenschaftlichem oder künstlerischem Interesse, löst Ehrfurcht oder Neugier gleichermaßen aus. Das muntersam Absurde bietet Anlaß zur Spekulation, manchmal auch zur Sensation, letzten Endes aber auch zur Aufklärung und hin und wieder zur Erkenntnis.

Skelette und Präparate verweisen auf ein morphologisches Geschehen mit ganz besonderem Wirklichkeitsbezug. Hin und wieder provozieren sie geradezu eine persönliche Anteilnahme. Wir können natürlich Anatomie auch ohne die manchmal irritierende Autopsie aus Lehrbüchern lernen, sozusagen als reines Bild- und Buchwissen. Einer Sachdienlichkeit folgend, die sich an wissenschaftlichen Prämissen orientiert und der praktischen Anwendung geschuldet ist. Dagegen ist nichts einzuwenden, doch leiden wir als bildende Künstler, ich spreche jetzt sozusagen für mich und meine Kollegen und Studenten, einen permanenten Mangel an Anschaulichkeit. Mehr als andere sind wir angewiesen auf die erquickliche Verbindung von Erlebnis und Erkenntnis. Eine zugegebenermaßen elitäre Auswahl an subjektiver Bebilderung von Weltgeschehen. Ich möchte dieser verwöhnten Befindlichkeitssuche auch keinen Vorschub leisten, doch halte ich das Phänomen als Ausgangspunkt der Betrachtung für äußerst bedeutsam. Und ein solches Pottwalskelett, um das es hier geht, ist ein Phänomen und vielleicht auch ein Faszinosum, zumindest für einen Großteil der Betrachter. Dabei ist es weniger die Größe, also auch die Superlative, von der ich vorhin sprach, sondern vielmehr die Eigentümlichkeit ihrer Existenz, die uns in den Bann zieht. Es ist ein Stück Evolutionsgeschichte und Ausdruck von Gestaltbildung und Formenreichtum.

Abbildungen, die auf das Mysterium Wal eingehen, sind z.B. jene zum Motiv Jonah und der Wal. Es wurde vom Walfischgesprochen und fischartige Wesen dargestellt, obwohl man wußte, dass sie warmes Blut haben und lebend gebären. Die Zuordnung erfolgte nach Gestalt.
Conrad Geßner, ein Universalgelehrter der Renaissance, des 16. Jahrhunderts, hat mehrere Bücher über Tiere und Pflanzen geschrieben. Die Darstellung der Wale erinnert im Vergleich zu seinen anderen Tierdarstellungen noch sehr an Fabelwesen. Das Ungeheuerliche spielte eine Rolle: Dazu zählten Geschichten von Walen, die mit Ihrem Blas Schiffe versenken. Dargestellt ist ein herausschießender Doppelstrahl, eher an Bartenwale erinnernd. Die Größe, die Naturgewalt, die sich dahinter verbirgt, kommt hier zum Tragen, bis hin zur Deutung einer Insel auf dem Rücken eines Wals zum Anlanden.

Ebenso bedeutend ist aber die Ressource Wal. Ein gestrandeter oder erlegter Wal war für die Menschen der Frühzeit, des Mittelalters oder auch später eine Fundgrube. Ein Wal hatte den Energiewert einer ganzen Rinderherde. Zu sehen ist auf entsprechenden Bildern das Wegtragen des Blubbers, ganze Wagenladungen wurden weggefahren. Das erinnert an ein Bergwerk: Der Wal als Berg, als ungeheure Masse, als bedeutende Ressource.

Der erste kommerzielle Walfang geht möglicherweise auf die Basken zurück, die in der Biscaya im 10. / 11. Jahrhundert den Walfang auf Glattwale forciert betrieben und dann auch die Bestände dort relativ schnell reduziert haben.
Frühe Abbildungen der Wale zeigten die Flipper oftmals Richtung Ohr verschoben. Die Gestaltbildung ist noch von anderen Tier- und Menschengesichtern geprägt.

Sehr bekannt sind die Walgeschichten um die Pottwaljagd, weil sie philosophische Dimensionen annehmen, indem sie sich exemplarisch mit dem Kampf Mensch gegen Natur auseinandersetzen. Spezielle Erwähnung muss hier natürlich Melvilles Moby Dick finden. Erschienen zu Beginn des industriellen Zeitalters, Mitte des 19. Jahrhunderts (1851) treffen hier vielleicht ein letztes Mal in der Menschheitsgeschichte Mensch und Natur aufeinander.

Walstrandungen waren nicht nur ein Ereignis wegen der zusätzlichen Ressourcen, sondern auch weil sie Auswurf waren. Sie waren Lebewesen, die auch vom anderen Stern hätten kommen können. Kupferstich spätes 16. Jahrhundert stra pmac Schule. Strandungen wurden registriert und künstlerisch umgesetzt. Über Flugblätter verbreitet. Es ist das Bemühen zu sehen, dem Wal ein bekanntes Antlitz zu verschaffen. zwei Blaslöcher, menschliche Züge #####

Von Goltzius ( 1598) stammt eine der bekanntesten Darstellungen, die als Vorlage für zahlreiche Kupferstiche diente. Goltzius war vor Ort, hat die Dramatik überhöht, indem er die Wale vergrößert hat. Englische Verfügung Kopf für König, Schwanz für Königin

Empfohlene Literatur

GARSCHKE, I. (2001):
Zeichnungen und Plastiken zur Anatomie und Morphologie. Arbeiten aus den Jahren 1996 bis 2001. Mit einem Essay von Sandra Mühlenbehrend.
Edition Erata, Leipzig

GARSCHKE, I. (2002):
Protokoll Pottwalbergung.
Hochschule für Grafik und Buchkunst, Leipzig.

GARSCHKE, I. (2004):
Protokoll Pottwalbergung \ Skelettmontage.
Hochschule für Grafik und Buchkunst, Leipzig.

GARSCHKE, I. (2005):
Das kleine Walbuch – anatomische Anmerkungen zum Leipziger Pottwal.
Hochschule für Grafik und Buchkunst, Leipzig.

HUFEN,C. , I. GARSCHKE, H. PUCHERT (2005):
Im Gebirge.
Verlag Janos Stekovics, Halle an der Saale.

NICOLAISEN, J. (2005):
Das Museum der Künstler. Zeitgenössische Künstler über Alte Meister. Im Gespräch mit Hartwig Ebersbach, Wolfram Ebersbach, Ingo Garschke,…
Deutscher Kunstverlag, München, Berlin.

 

Ingo Garschke

Löwenschädel 1995 von Ingo Garschke

Nach jahrelanger Beschäftigung mit der Bildhauerei, hat sich Ingo Garschke ab Mitte der 1990er Jahre auch der Anatomie und Morphologie der Säugetiere und Vögel zugewandt. 1998 wurde er als Dozent für Anatomie und figürliches Zeichnen an die Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig berufen. Dort hat er den Aufbau einer eigenen anatomischen Sammlung vorangetrieben und zahlreiche Skelettpräparate und bildkünstlerische Arbeiten zum Tierskelett erstellt. Nach einer Zusammenarbeit mit dem Veterinär-Anatomischen Institut der Universität Leipzig in den Jahren 2000 bis 2001 wandte er sich dann 2002 den grössten Säugetieren zu. Ein im Januar 2002 vor Friedrichskoog gestrandeter und gestorbener Pottwalbulle wurde unter Leitung von Ingo Garschke geborgen und sein Skelett präpariert.

Vogel 2003 von Ingo Garschke

Seit 2004 hält Ingo Garschke die Professur für Künstlerische Anatomie und Zeichnerisches Naturstudium an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig.
Ausführliche Informationen zum Werdegang finden Sie auf der Internetseite der HGB Leipzig.
Am 27. April 2010 ist Ingo Garschke gestorben.

Weitere Links:

Schütte, Christoph (2006):
Ausstellung. Mit Block und Bleistift durch die Wälder.
F.A.Z. vom 08.03.2006.

Arbeiten von Ingo Garschke in der Galerie der Edition Erata, Leipzig

Cetacea.de: Wal-Skelette in Deutschland: Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig