Genetik, Verhalten, Aussehen: Überzeugende Argumente für neue Schwertwal-Arten im östlichen Nordpazifik

von Michael Milstein | NOAA Fisheries | Santa Cruz | 29. März 2024

Die Vielzahl der Typen der von Antarktis bis Arktis weltweit verbreiteten Schwertwale ist enorm. Sie unterscheiden sich in Größe, Farbgebung oder Verhalten. Nun unternehmen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um Phil Morin einen neuen Versuch, einzelne Orca-Typen als eigene Art zu definieren. Zwei bekannte Schwertwalformen im Nordpazifik wurden in einer neuen wissenschaftlichen Arbeit als eigene Arten identifiziert.

Schwertwale gehören zu den Tieren mit einer der weitesten Verbreitungen auf der Erde. Sie wurden lange Zeit als eine einzige Art betrachtet, die wissenschaftlich als Orcinus orca bekannt ist. Die enorme Formenvielfalt in verschiedenen Regionen wurde bisher dadurch gelöst, dass man von unterschiedlichen „Ökotypen“ gesprochen hat.

Residente und Bigg-Schwertwale

Luftaufnahmen zum Größenvergleich von ausgewachsenen männlichen Bigg- und Residenten Schwertwalen. Aufgenommen in der Salish Sea vor Süd-Vancouver Island. Die Bilder sind auf die im Rahmen der Gesundheitsforschung von SR3 SeaLife Response, Rehabilitation and Research berechneten Längen skaliert. Die Bilder wurden von John Durban und Holly Fearnbach mit einer nicht-invasiven Drohne aufgenommen, die durch die Forschungsgenehmigung 19091 des US National Marine Fisheries Service (NMFS) genehmigt wurde.

Im östlichen Nordpazifik kennen Biologen seit Jahrzehnten die Unterschiede zwischen Residenten und Bigg-Schwertwalen. Die Residenten (ansässigen) Schwertwale leben in engen Familienverbänden und ernähren sich von Lachs und anderen Meeresfischen. Bigg-Schwertwale ziehen in kleineren Gruppen umher und erbeuten andere Meeressäuger wie Robben und Wale.  Bigg-Schwertwale, ursprünglich auch „Transiente“ Schwertwale genannt, sind nach dem kanadischen Wissenschaftler Michael Bigg benannt, der als erster die Unterschiede zwischen den beiden Typen beschrieben hat.

In den 1970er Jahren stellte er fest, dass sich die beiden Tiergruppen nie miteinander mischten, obwohl sie viele der gleichen Küstengewässer bewohnten. Oft ist dies ein Zeichen für unterschiedliche Arten.

Schutz für Südliche Residente Schwertwale

Die Feststellung bestätigt die Richtigkeit der Einstufung der Südlichen Residenten Schwertwale als eigenständiger Populationsteil, der gemäß des US-Gesetz über gefährdete Arten (Endangered Species Act) im Jahr 2005 geschützt wurde. Damals beschrieb die Nationale Ozean- und Atmosphärenbehörde der USA NOAA den eigenständigen Populationsteil einer unbenannten Unterart der Residenten Schwertwale im Nordpazifik.

Datensammlung führt zu neuen Schwertwal-Arten

Verbreitung von Schwertwalen weltweit mit Kennzeichnung der sympatrisch vorkommenden Bigg-Schwertwalen und Residenten Schwertwalen..

Jetzt hat ein Team von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern von NOAA Fisheries und von Universitäten genetische, physische und verhaltensbezogene Beweise zusammengetragen. Die Daten weisen zwei der Ökotypen der Schwertwale an der Nordpazifikküste – die Residenten und die Bigg-Schwertwale – als eigenständige Arten aus.

„Wir haben schon vor 20 Jahren begonnen, diese Frage zu stellen, aber wir hatten nicht viele Daten und nicht die Werkzeuge, die wir jetzt haben“, sagte Phil Morin, ein Evolutionsgenetiker am Southwest Fisheries Science Center der NOAA und Hauptautor der neuen Studie. „Jetzt haben wir mehr von beidem, und die Schwere der Beweise sagt, dass es sich um verschiedene Arten handelt“.

Genetische Daten aus früheren Studien haben gezeigt, dass sich die beiden Arten wahrscheinlich vor mehr als 300.000 Jahren auseinanderentwickelt haben und von entgegengesetzten Enden des Schwertwal-Stammbaums stammen. Damit sind sie genetisch so unterschiedlich wie alle Schwertwal-Ökotypen auf der Welt. Nachfolgende Studien von Genomdaten bestätigen, dass sie sich als genetisch und kulturell unterschiedliche Gruppen entwickelt haben, die verschiedene Nischen im gleichen marinen Ökosystem des amerikanischen Nordwestens besetzen.

„Es sind die unterschiedlichsten Schwertwale der Welt, und sie leben direkt nebeneinander und sehen sich ständig“, sagte Barbara Taylor, eine frühere Biologin für Meeressäuger bei NOAA Fisheries, die dem wissenschaftlichen Gremium angehörte, das den Status der Südlichen Residenten bewertete. „Sie passen einfach nicht zueinander.“

Der weitere Weg zur Anerkennung von Ökotypen als neue Schwertwal-Arten

Die Neotypus-Schädel von Bigg-Schwertwal, Orcinus rectipinnus (links), und dem Residenten Schwertwal, Orcinus ater (rechts). Der Bigg-Schwertwal-Schädel ist robuster und hat ein breiteres Rostrum (Schnabel), was vermutlich eine Anpassung an das Fressen größerer Beutetiere (Meeressäuger) ist.

Der Taxonomieausschuss der Society of Marine Mammalogy wird entscheiden, ob die neuen Arten in die offizielle Liste der Meeressäugerarten aufgenommen werden. Der Ausschuss wird wahrscheinlich bei seiner nächsten jährlichen Überprüfung im Sommer entscheiden, ob er die neuen Bezeichnungen akzeptiert.

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben wissenschaftliche Namen für die neuen Arten vorgeschlagen, die auf den frühesten veröffentlichten Beschreibungen aus dem 19. Jahrhundert basieren. Keine der beiden Arten wird den weltweit gebräuchlichen Namen orca behalten. Das Team schlug vor, die Residenten Schwertwale Orcinus ater zu nennen, eine lateinische Anspielung auf ihre dominante schwarze Färbung. Bigg-Schwertwale würden Orcinus rectipinnus heißen, eine Kombination aus lateinischen Wörtern für aufrechte Flügel, die sich wahrscheinlich auf ihre hohe, scharfe Finne bezieht.

Beide Artennamen wurden ursprünglich 1869 von Edward Drinker Cope veröffentlicht, einem Wissenschaftler aus Pennsylvania, der eher für die Ausgrabung von Dinosauriern als für die Erforschung von Meeressäugetieren bekannt war. Er arbeitete mit einem Manuskript, das der kalifornische Walfangkapitän Charles Melville Scammon an die Smithsonian Institution geschickt hatte und in dem er die Meeressäuger der Westküste beschrieb, darunter auch die beiden Schwertwale. Cope rechnete Scammon die Beschreibungen zwar hoch an, aber Scammon warf Cope vor, Scammons Arbeit bearbeitet und veröffentlicht zu haben, ohne ihn darüber zu informieren.

Die Smithsonian Institution hatte Scammons Arbeit Cope zur Verfügung gestellt, und ein Vertreter der Smithsonian Institution entschuldigte sich später bei Scammon für das, was er „Copes absurden Fehler“ nannte.

Arten sind ein Spiegel ihres Habitats

Die umstrittene Frage, ob die Südlichen Residenten Schwertwale so unterschiedlich von den anderen sind, dass sie als gefährdete Art geschützt werden müssen, war ursprünglich die treibende Kraft hinter den Forschungen, die dazu beigetragen haben, die beiden Arten zu unterscheiden, so Eric Archer, Leiter des Genetikprogramms für Meeressäuger am Southwest Fisheries Science Center und Mitverfasser der neuen Forschungsarbeit. Die zunehmende Rechenleistung von Computern hat es möglich gemacht, die DNA von Schwertwalen in immer feineren Details zu untersuchen. Er sagte, dass die Ergebnisse nicht nur den Schutz der Tiere selbst rechtfertigen, sondern auch dazu beitragen, verschiedene Komponenten der marinen Ökosysteme, von denen die Wale abhängen, aufzudecken.

Residente SchwertwaleBigg-Schwertwale
Wissenschaftlicher NameOrcinus aterOrcinus rectipinnus
Größe♂≥ 7,3 m; ♀≥ 6,4 m♂≥ 8,2 m, ♀≥ 7,0 m
Farbe„Offene“ Sattelzeichnung mit unterschiedlichen
Teilen schwarzer und grauer Pigmentierung.
„Geschlossene” oder einheitliche graue Sattelzeichnung, oft stark vernarbt.
Finne♂Sehr hoch bis zu 2 Meter, gelegentlich nach vorne gebeugt; ♀geschwungen mit runder Spitze.♂groß, mindestens 1,5 Meter mit breiter Basis; ♀leicht dreieckig mit spitzem Ende und breiter Basis.
GruppenstrukturGroße Gruppen; Weibliche und männliche Nachkommen bleiben lebenslang bei der Mutter.Kleinere Gruppen; Weibliche und männliche Nachkommen können sich aus der mütterlichen Gruppe entfernen.
BeuteFisch mit einer Vorliebe für Chinook Lachs, gelegentlich Tintenfisch.Meeressäuger und gelegentlich Tintenfisch.
JagdAkustisch hoch aktiv während der Jagd; Nutzen Echolokation, um Beute aufzuspüren.Typischerweise leise bei der Jagd.
GebietSaisonal unterschiedliche Gebiete.Weites Umherstreifen auf der Suche nach Beute, einige saisonale Muster.
AkustikUnterschiede bei Vokalisationen unterschiedlicher Populationen
mit ausgeprägten Familiendialekten.
Regionale Unterschiede bei Vokalisationen.
Übersicht über Unterschiede zwischen Residenten und Bigg-Schwertwalen

„In dem Maße, in dem wir besser verstehen, was diese Arten so besonders macht, erfahren wir auch mehr darüber, wie sie die Ökosysteme nutzen, in denen sie leben, und was diese Umgebungen ebenfalls so besonders macht“, sagte er.

In der neuen Studie werden die frühesten Berichte über Schwertwale an der Pazifikküste mit modernen Daten über physische Merkmale kombiniert. Sie nutzen auch Luftaufnahmen (die so genannte Photogrammetrie) sowie Messungen und genetische Untersuchungen von Museumsexemplaren am Smithsonian und anderswo. Auch wenn die beiden Arten für das ungeübte Auge ähnlich aussehen, zeigen die Ergebnisse, dass es sich um sehr unterschiedliche Arten handelt. Sie nutzen unterschiedliche ökologische Nischen, indem sie sich beispielsweise auf verschiedene Beutetiere spezialisieren, so Kim Parsons, Genetikerin am NOAA Fisheries Northwest Fisheries Science Center in Seattle und Mitautorin der neuen Studie.

Drohnenforschung an Schwertwalen war Teil der Arbeit

Jüngste Forschungen mit Drohnen und präzisen Luftaufnahmen haben dazu beigetragen, Bigg-Schwertwale als länger und größer zu erkennen. Dies wäre vorteilhaft dafür, große Meeressäuger als Beute zu jagen. Die kleinere Größe der Residenten ist wahrscheinlich besser für tiefe Tauchgänge nach ihrer Lachsbeute geeignet, sagte John Durban, ein außerordentlicher Professor am Marine Mammal Institute der Oregon State University. Seine Drohnenforschung an Schwertwalen führt er zusammen zusammen mit Holly Fearnbach durch, einer Forscherin bei SR³.

Die unterschiedlichen Beutetiere der beiden Arten könnten ebenfalls dazu beitragen, ihre unterschiedliche Entwicklung zu erklären. Die Südlichen Residenten Schwertwale sind unter anderem deshalb als gefährdet eingestuft, weil ihre Lachsbeute so knapp ist. Der Bestand der Bigg-Schwertwale hat sich dagegen sich vervielfacht, denn sie ernähren sich von reichlich vorhandenen Meeressäugern, darunter auch kalifornischen Seelöwen.

Obwohl Schwertwale zu den effizientesten Raubtieren gehören, die die Welt je gesehen hat, ist die Wissenschaft laut Durban noch dabei, die Vielfalt unter ihnen zu entschlüsseln. Die Identifizierung weiterer Schwertwalarten wird wahrscheinlich folgen. Ein führender Kandidat sind die Typ-D-Schwertwale, die im Südpolarmeer um die Antarktis entdeckt wurden.

Auch andere Schwertwale in der Antarktis sehen ganz anders aus als die bekanntesten schwarz-weißen Schwertwale. Dies spiegele eine größere Vielfalt innerhalb der Art wider, sagte Durban, der Drohnen zur Untersuchung von Schwertwalen auf der ganzen Welt eingesetzt hat. „Je mehr wir lernen“, sagte er, „desto klarer wird mir, dass zumindest einige dieser Arten zu gegebener Zeit als verschiedene Arten anerkannt werden.“

Transiente Schwertwale

Basierend auf einer Pressemitteilung von NOAA Fisheries. Das Beitragsbild „Transiente Schwertwale“ stammt von Robin Gwen Agarwal, CC-BY-NC 2.0.

Besprochene Fachpublikation

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Fachliteratur zum Thema

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