Gestrandete Wale:  Keine neue Naturkatastrophe

von Manuela Tölle | VetImpulse | | 29. Juli 1998

Ein Experte äußert sich

von MANUELA TÖLLE, erschienen in Vet Impulse 7(7), 1998

Gestrandeter Pottwal. Bild: M. Stede

Als Anfang Dezember vergangenen Jahres und dann im Januar dieses Jahres wieder einige Pottwale vor der deutschen Küste strandeten, entbrannte aufs Neue die Diskussion um mögliche Ursachen. In der Öffentlichkeit werden dabei vornehmlich Theorien erörtert, die Erkrankungen bzw. Fehlorientierungen der Tiere durch Umweltverschmutzung im weitesten Sinne annehmen. Hieraus resultieren dann auch regelmäßig entsprechende Debatten auf politischer Ebene.

Darin sieht Dr. Michael Stede vom Staatlichen Veterinäruntersuchungsamt für Fische und Fischwaren in Cuxhaven allerdings eine verfrühte Diskussion über eventuelle Therapiemöglichkeiten, denn an erster Stelle sollte eine ordentliche Diagnostik stehen. Und der Kollege weiß gewiß, wovon er redet, denn sein Arbeitsgebiet umfaßt das Monitoring der Meerssäuger in der Nordsee, wozu nicht nur die Seehunde und Robben gehören, sondern auch die Wale. Und so ist es auch kein Zufall, daß Dr. Stede von der Landesregierung mit der Organisation der Beseitigung gestrandeter Wale beauftragt wurde.

Logo VETImpulse Zeitung für die Veterinärmedizin. Wir danken Dr. Manuela Tölle, Dr. Hans-Joachim Andres und dem VETimpulse-Team, dass wir den Artikel an dieser Stelle wiedergeben dürfen.

Im Laufe seiner langjährigen Beschäftigung mit den Meeressäugern hat er natürlich eigene Theorieansätze, warum die Pottwale von ihrer ursprünglichen Wanderroute abweichen und so Gefahr laufen zu stranden. »Erst einmal ist dies kein Phänomen unserer Tage. Seit Jahrhunderten dringen Pottwale regelmäßig in die südliche Nordsee vor, und so kam es beispielsweise 1723 zu einer Massenstrandung von 21 Tieren. Dann muß man die geophysikalischen Gegebenheiten im Nordmeer berücksichtigen und wird dabei erkennen, daß offenbar Klimaveränderungen eingetreten sind, die seit den 80er Jahren einen Meeressäuger-Zustrom aus dem Polarbereich in unsere Region nach sich ziehen. So können wir heute beispielsweise regelmäßig Sattelrobben, Klappmützen und Zwergwale beobachten, die hier nicht heimisch sind. Veränderungen der Wassertemperaturen und der Strömungsverhältnisse haben vermutlich zu einer Verschiebung der Nahrungspotentiale geführt, in deren Folge sich durchaus auch die Lebensräume oder Wanderrouten der Säuger ändern können. Und nicht zuletzt weiß man bis heute nicht genau, woran sich Wale auf ihren Wanderungen eigentlich orientieren.«

Dr. Michael Stede, Jg. 1944, Studium der Veterinärmedizin an der FU Berlin, Approb. und Promot. 1970. Wiss. Assistent am Institut für Veterinäranatomie, Histologie und Embryologie der FU inklusive Lehre und Forschung. Seit Ende 1973 im Staatlichen Veterinäruntersuchungsamt für Fische und Fischwaren in Cuxhaven; 2. Staatsexamen für den höheren Verwaltungsdienst. Aufbau des Arbeitsbereichs »Tierärztliche Umweltdiagnostik« u.a. mit dem Schwerpunkt Meeressäugetiere. Tierärztlicher Sachverständiger des Landes Niedersachsen für diesen Bereich. Hobbies: Diagnostik an archäologischem Fundmaterial tierischen Ursprungs, Wassersport, Exkursionen ins Wattenmeer. Das Foto zeigt Dr. Stede mit der Rippe eines Buckelwales. Die Fotos der Walbergungen stammen von Dr. Stede.

Wanderrouten mit Verkehrshindernissen

Auf dem Weg der Walbullen vom Polarkreis in südlichere Gewässer bilden die britischen Inseln gewissermaßen eine Verkehrsinsel. Hier können die Tiere statt des üblichen westlichen Weges »versehentlich« an der Ostküste entlangwandern. Die dänische Küste bildet dann einen weiteren »Knotenpunkt«, an dem entsprechend viele Strandungen vorkommen.

Befinden sich die Wale erst einmal in der Nordsee, müssen sie im Vergleich zu ihrem eigentlichen Lebensraum (mit Wassertiefen bis zu 1000 m) nun mit einem Flachwassergebiet fertigwerden.

Hier nützt dem Tier auch sein Echolot nicht viel; dazu Dr. Stede: »Das ist so, als wenn wir versuchen, uns im Nebel zu orientieren: Wo endlich wieder freie Sicht herrschen wird, kann keiner sagen. Und dann fehlen dem Wal bei Ebbe plötzlich 3 Meter Wasser unter dem Körper, was bei einem Leibesdurchmesser von etwa 2,50 Meter schon katastrophal ist.«

Eine weiterer Aspekt, der nach den Beobachtungen Dr. Stedes eine Rolle spielen könnte, ist die Neigung kranker und geschwächter Tiere, gezielt Flachwasserzonen aufzusuchen. Hier herrschen ruhigere Strömungsverhältnisse, die Tiere können sich auf den Grund ablegen, und der Weg zur Oberfläche, den sie zur Atmung zurücklegen müssen, ist kurz.

Qualvolles Ende

Geraten nun die bis zu 60 t schweren Pottwale auf das Watt, verenden sie nicht – wie häufig angenommen wird – durch Ersticken oder Erdrücken, sondern durch typische Folgen einer Schocksituation. Da die Tiere verzweifelt versuchen, sich aus ihrer mißlichen Lage zu befreien, häufen sich große Mengen Laktat in der Muskulatur an. Aufgrund seiner – für ein Säugetier extremen – Lebensweise kann ein Wal diese Übersäuerung sehr lange kompensieren, weswegen der Todeskampf oft viele Stunden andauert. Schließlich aber kommt es auch bei dieser Tierart zu den typischen irreversiblen Organschädigungen von Lunge, Herz, Leber und Nieren, die letztlich zum Tode führen. Dabei entwickelt sich durch die Muskelaktivität in Zusammenhang mit der Isolationswirkung der Speckschicht eine sehr hohe Körpertemperatur bei fehlender Wasserkühlung. 36 Stunden nach Verenden wurden bei einem Tier in der Muskulatur Temperaturen von über 50°C gemessen.

Keine legale Möglichkeit zur Tötung

Zwangsläufig stellt sich an dieser Stelle gerade für Tierärzte die Frage, ob es nicht besser wäre, die gestrandeten Tiere zu töten. Darauf angesprochen, meint Dr. Stede: »Die Tiere müßten aus Gründen des Tierschutzes sofort getötet werden, zumal dann, wenn sich noch weitere Wale in der Nähe befinden. Die starke Rudelbindung begünstigt nämlich das Stranden ganzer Schulen, nachdem sich zunächst vielleicht nur ein Tier festgeschwommen hat.

Befreiungsversuche sind extrem gefährlich für Mensch und Tier – wenn denn überhaupt eine Möglichkeit gegeben ist, an die Tiere heranzukommen. Und sie mißlingen meistens, wie Versuche in Dänemark gezeigt haben. Am Tag freigeschleppte Tiere sind über Nacht wieder in die Uferzonen geraten.«

Das Töten der Wale wird bislang durch arzneimittelrechtliche Vorschriften erschwert, die den Besitz und die Anwendung bestimmter synthetischer hochtoxischer Morphine soweit einschränken, daß an eine Bevorratung der für Großwale notwendigen Menge (z.B. von Etorphin) unter Berücksichtigung des doch relativ seltenen Strandungsereignisses bis heute nicht gedacht wurde. Zur Tötung wäre eine Injektion von etwa 400 mg intramuskulär notwendig. Verständlicherweise zögern hier die Landesregierungen, denn eine derartige Substanz ist natürlich extrem toxisch, und das Restrisiko selbst unter Handhabung mit Mundschutz und Handschuhen ist immer noch sehr hoch.

Eine legale Methode bestünde in der Verwendung von T61®, nur würde man hier mindestens fünf Liter applizieren müssen. Eine intravenöse Gabe ist beim Wal natürlich nicht möglich, so daß lediglich die Injektion in die Muskulatur bleibt. Dr. Stede: »Spätestens nach zwei Litern kommt einem die Flüssigkeit wegen des hohen Druckes wieder entgegen; außerdem ist natürlich mit heftigen Abwehrbewegungen des Tieres zu rechnen. Ein weiteres Problem stellt die Beschaffung dar; man kann diese großen Mengen nicht einfach vorrätig halten, denn dazu ist die Haltbarkeit zu kurz. Im Falle einer Walstrandung müßte also ein schneller Transport gewährleistet sein.«

Der Fachmann denkt auch über eine dritte Tötungsmethode nach, die allerdings in Bezug auf die Öffentlichkeit viel Aufsehen nach sich ziehen könnte, nämlich der Einsatz militärischer Waffen: »Dieser Einsatz sollte aber nur unter der Bedingung erfolgen, daß das Tier nach einem sicheren Schuß sofort verendet.

Bergung des gestrandeten Pottwals Die Bergung der toten Wale ist nur mit schweren Maschinen möglich

Allerdings glaube ich nicht, daß sich das Verteidungungsministerium auf die Verwendung dieses militärischen Mittels einlassen würde.« Derzeit wird mit dem Landwirtschaftsministerium eine optimale Regelung zur tierschutzgerechten Tötung der Wale erarbeitet.

Bergung und Beseitigung schwierig

Die toten Wale stellen den Spezialisten vor weitere, massive Probleme. Eine Bergung ist aber unbedingt vorzunehmen, denn ein derartig voluminöser Körper könnte beispielsweise bei einer Sturmflut erhebliche Schäden an den Deichen anrichten.

Eine Zerlegung vor Ort kommt allein schon aus umwelthygienischen Gründen (Stichwort: Botulismus) nicht in Frage, so daß die Kadaver mit Hilfe schweren Gerätes geborgen und möglichst in einen Hafen verbracht werden müssen. Im Falle des vor Norderney gestrandeten Wales im Februar 1996 konnte der Transport nicht bis zum Zielhafen durchgeführt werden, da die Küstengewässer zu stark vereist waren; daher ist dieser Wal in einer Düne vor Norderney vergraben worden.

Auf Baltrum gestrandeter Pottwal: Ablassen der Fäulnisgase Das Ablassen von Gasen aus den Körperhöhlen ist die vordringlichste Aufgabe

Auch die Zerlegung der Walkörper ist mit einer erheblichen Gefährdung der damit beauftragten Personen verbunden.

Die schon erwähnten hohen Körpertemperatur begünstigen nämlich die rasch einsetzenden und rasant verlaufenden Fäulnisprozesse im Kadaver.

Das größte Problem bei der Beseitigung toter Wale ist daher die Gefahr des Zerberstens des Körpers durch große Gasansammlungen im Körperinneren. Dies kann u.U. explosionsartig geschehen mit Austreten von verfaulten Gewebeteilen und Körperflüssigkeiten, die zudem stark mit pathogenen Keimen angereichert sind.

Daher führt man, sobald dies möglich ist, Bohrungen und Entlastungsschnitte im Tierkörper durch, um eine Druckentlastung zu erreichen. Die Arbeiten werden durch die glitschige Oberfläche zusätzlich erschwert.

Verwertung

Schließlich werden die Gewebeteile in einer Tierkörperbeseitigungsanlage zu Tiermehl verarbeitet. Dieses Produkt darf allerdings nur stark verschnitten mit Tiermehl von Rind oder Schwein vermarktet werden, denn sonst würde mit einem Walprodukt gehandelt und damit gegen das Washingtoner Artenschutzabkommen verstoßen werden.

Aus dem gleichen Grunde sind einige Fässer mit Walrat, der wertvollen öligen Substanz aus den Kopfhöhlen der Tiere, eingelagert worden, um später eine ordnungsgemäße Entsorgung vorzunehmen. Verarbeitungsbetriebe für dieses Material gibt es nicht mehr.

Historische Pottwalstrandung Gestrandete Wale gab es schon immer. So bemerkte Aristoteles vor über 2000 Jahren: »Man weiß nicht, warum sie auf trockenes Land auflaufen. Es wird gesagt, sie tun dies von Zeit zu Zeit und aus keinem ersichtlichen Grund«. Diese Abbildung aus dem Jahre 1836 stammt aus Frankreich.

Es besteht daher derzeit auch keine Möglichkeit mehr, die Bergungskosten (bei der Aktion in Cuxhaven waren es ca. 40.000 DM) durch Verwertung von Material wenigstens teilweise zudecken. Insofern erübrigt sich auch die Diskussion über Sinn und Zweck der hierfür notwendigen Ausnahmeregelungen nach dem Artenschutzgesetz.

Die Skelette gestrandeter Wale werden gern von Museen übernommen, die nach einer langwierigen Entfettungsprozedur die imposanten Knochen dieser Meeressäuger ausstellen. Die Unterkiefer werden schon vor der Bergung abgesetzt und verwahrt, denn die Zähne könnten auf dem illegalen Elfenbeinmarkt hoch gehandelt werden.

Fazit

Der gestrandete und verendete Wal war in früheren Jahrhunderten ein willkommener Rohstofflieferant für die Küstenbevölkerung – heute muß er als Symbol für die Folgen maßloser Ausbeutung der Umwelt durch den Menschen herhalten.

Und im Spannungsfeld der Emotionen steht ein tierärztlicher Diagnostiker und zugleich naturwissenschaftlicher Chronist, der versucht, als Anatom, Physiologe und Pathologe die Fragen nach den Ursachen dieser Tiertragödie zu beantworten. Er muß aber auch Nautiker, Techniker, Manager und Hygieniker sein, um dieses alsbald als unappetitlich anrüchige Symbol möglichst schnell und spurlos zu entsorgen. Alles zusammen vielleicht eine reizvolle, aber nicht immer dankbare Aufgabe im weiten Spektrum tierärztlicher Betätigungsfelder.