Dies ist die Verschriftlichung eines Vortrages, den Jan Herrmann am 24. Oktober 2019 im Rahmen des Fachsymposiums „Über die Welt der Wale“ in der Hermann-Hoffmann Akademie der Justus-Liebig-Universität Gießen gehalten hat.
Pottwalkühe des Nordatlantiks leben zusammen mit ihrem Nachwuchs in den ozeanisch-subtropischen Gewässern um die Inselgruppen der Azoren und Madeiras bis zu den kanarischen Inseln. Ein Vorkommen weiblicher Pottwale über 40° nördlicher Breite und einer Wassertemperatur unter 15°C stellt eine seltene Ausnahme dar. Die Social Units bestehen aus verwandten Weibchen und dem vorpubertären Nachwuchs beiderlei Geschlechts. Eine rege Kommunikation über Klickfolgen, sogenannte Codas ist Ausdruck für soziale Identität. Weibchen gebären etwa alle fünf Jahre, die Tragzeit beträgt 14 bis 16 Monate. Bis zu einem Alter von etwa neun Jahren wachsen Weibchen und Männchen ungefähr gleich schnell. Männliche Pottwale werden zu dieser Zeit von den Gruppen abgesondert, bzw. sondern sich ab und verlassen die Gruppen1.
Männliche Pottwale ziehen dann entlang des Golfstroms westlich an den britischen Inseln vorbei in kältere Regionen2,3. Dort sorgt der Nährstoffreichtum des Wassers für ein reiches Vorkommen an Beutetieren. Die Region der Kontinentalhänge ist besonders produktiv. Hier erbeuten die Pottwale in der Norwegischen See vor allem Tintenfisch, insbesondere Gonatus fabricii 4,5, und um Island bevorzugt Fisch6. Der Bestand um Island, insbesondere im Bereich der Färöer wird auf 23.000 Tiere geschätzt7. Der Bestand in der norwegischen See liegt bei etwa 6.000 Tieren8. Die bis etwa 30 Zentimeter Mantellänge großen Gonatus fabricii laichen zwischen Winter und Frühjahr. In dieser Zeit sind die Weibchen immobil und daher eine begehrte Beute9.
Obwohl die Pottwalbullen in sehr sozialen Gruppen aufgewachsen sind, gibt es kaum Anzeichen für eine soziale Beziehung der Pottwalbullen untereinander10.
Ab Ende ihrer 20er Jahre können Pottwalbullen an der Fortpflanzung teilnehmen. Da es auch Hinweise auf überwinternde Pottwale vor der norwegischen Küste gibt11, ist anzunehmen, dass Pottwale, die in die Nordsee geraten, nicht unbedingt auf Wanderschaft Richtung Süden sind, sondern sich möglicherweise auch nur in der südlichen Norwegischen See auf Beutesuche befunden haben.
Die Gründe, warum Pottwalbullen in die Nordsee geraten, werden wissenschaftlich und öffentlich intensiv diskutiert12,13. Bei der Ursachensuche muss berücksichtigt werden, dass Pottwale schon seit Jahrhunderten in die Nordsee geraten und an den Küsten stranden. Erste Spuren stammen aus dem Neolithikum14, die wahrscheinlich auf Strandungen zurückzuführen sind.
Auf welchen Daten basieren die historischen Strandungsbefunde? Nach Ausbreitung des Buchdrucks sind frühe Publikationen aus dem frühen 16. Jahrhundert überliefert. Einblattdrucke informierten mit imposanten Holzschnitten oder Gravuren und markigen Texten über Strandungen15. Seit dem 18. Jahrhundert sind Tageszeitungen gute Quellen für Strandungsberichte. Auch andere mehrseitige Berichte sind zu besonderen Strandungsereignissen verfasst worden. Sehr hilfreich sind die Listen von Strandungen die von Naturkundlern immer wieder zusammengetragen und ergänzt wurden. Hier sind insbesondere die Arbeiten von A. B. van Deinse, Erna Mohr, Chris Smeenk, Carl C. Kinze oder Peter Evans zu nennen16–19.
Historische Fallstricke
Bei der Beschäftigung mit historischen Quellen ist zu berücksichtigen, dass nicht immer die heute üblichen Bezeichnungen für den Pottwal (sperm whale, Potvis) verwendet wurden. So werden diese auch als Wall, Wallfisch, Pottfisch, Grampus oder nur fish bezeichnet. Da wo Unsicherheiten bestehen, muss auf arttypische Beschreibungen geachtet werden: Etwa das Auftreten von Zähnen im Zusammenhang mit einer Körperlängenangabe oder die Ausbeutung von Walrat (Spermaceti). Auch eine Massenstrandung sehr großer Tiere ist ein Indiz für eine Pottwalstrandung, da ein solches Ereignis für große Bartenwale untypisch wäre.
Die heutigen Ländergrenzen gelten nicht für die vergangenen Jahrhunderte, auch der Zuschnitt der Nordseeküsten hat sich im Laufe der Jahrhunderte durch Sturmfluten und Küstenschutzmaßnahmen geändert. Die Strandung eines Pottwales bei Berkhey im Februar 1598 lässt sich heute auf der Karte nicht mehr finden, da dieser Ort Ende des 16. Jahrhunderts fortgespült wurde.
Längenangaben dürfen nur sehr vorsichtig in den Vergleich gebracht werden, da frühe Längenangaben (in Fuß oder Elle) zum einen nicht auf standardisierten Messmethoden basieren, zum anderen aber auch regional und zeitlich unterschiedlich interpretiert wurden.
Seit 1255 liegen Daten vor, die auf gesicherte Pottwalstrandungen hindeuten (Niederlande). In anderen Regionen sind die ersten Strandungen später aufgezeichnet worden: Belgien (1403), England (1563), Dänemark (1572), Deutschland (1604), Frankreich (1614), Schottland (1689). Auch seltene Strandungen in der Ostsee sind dokumentiert. Beginnend 1291 (Polen) und dann auch 1700 (Dänemark) und 1718 (Schweden).
Fasst man die bekannten Strandungen nach Strandungsmonat zusammen, lässt sich eine deutliche Häufung von Strandungen zwischen Oktober und März feststellen.
Daraus lässt sich schlussfolgern, dass Pottwale in dieser Zeit in den Süden ziehen, oder sich zumindest weiter südlich näher am Eingang zur Nordsee aufhalten. Das Vorkommen von Tintenfisch aus der Norwegischen See in den Mägen gestrandeter Pottwale belegt, dass es sich um Pottwale handelt, die aus dem Norden eingewandert sind und nicht durch den Ärmelkanal5,20,21.
Pottwalstrandungen über die Jahrhunderte
Seit Beginn der Aufzeichnungen ist für 55 Winter eine einzelne Pottwalstrandung an den Nordseeküsten dokumentiert, in 30 Wintern sind jeweils zwei bis fünf Pottwale verendet. In sechs Wintern ist es zu Strandungen von mehr als 16 Tieren gekommen. Vielfach haben diese Massen- oder Serienstrandungen in zeitlicher und räumlicher Nähe stattgefunden, so dass dies trotz anderer Befunde (s.o.) Indiz einer sozialen Bindung der betroffenen Bullen darstellt.
Im Dezember 1723 strandeten 21 Pottwale auf Neuwerk. Je nach Überlieferung sind drei oder vier Tiere wieder entkommen. Erna Mohr17 hat den Bericht des Leipziger Apothekers Johann Heinrich Linck wiedergegeben:
„Diese Fische schwummen so groß und hoch auf dem Wasser, daß man etliche davon für Schiffe oder Mastbäume ansahe; nachdem sie aber nach und nach, bey ohne dem ablauffenden Wasser, auf dem Grund fest zu sitzen kommen, machten sie ein schröcklich Lermen mit Schlagung ihrer Schwäntze, auch sonsten ein greulich Gethön und Geheule, welches alle daherum liegenden Schiffer in solche Furcht und Schröcken setzte, daß einige von ihnen, die daselbst zu Anker liegen wollten, oder schon lagen, wieder zuriickkehrten, in der Einbildung, der Teufel wolle daselbst sein Fest halten, oder mach wenigstens die Praeparatoria dazu.“
Zwischen Dezember und Februar 1761/1762 sind 25 Strandungsberichte plausibel überliefert, die meisten in England und den Niederlanden. Am 22. Januar 1762 gab es auch eine Strandung vor Juist, zu der Alfred Schmidt vor kurzem einen interessanten Schriftverkehr aus den Archiven ans Tageslicht befördert hat22: Die Einheimischen meldeten den Walfund, stellten aber dar, dass die Bergung zu gefährlich sei. Dies scheint aber nur ein gerissener Steuerbetrug gewesen zu sein, denn gestrandete Wale waren begehrte Rohstofflieferanten, von denen der König seinen Anteil forderte.
Von Ende des 18. Jahrhunderts bis Mitte des 20. Jahrhunderts kam es kaum zu Pottwalstrandungen. Ein möglicher Grund kann im verstärkten Pottwalfang liegen. Die Jagd auf nordostatlantische Pottwale hat zwar schon im 18. Jahrhundert begonnen, erreichte aber erst zur Mitte des 20. Jahrhunderts ihren Höhepunkt. Mit der Walschutzbewegung endete der Pottwalfang in den 1980er Jahren23.
Zwischen November 1994 und März 1995 strandeten 22 Pottwale, davon allerdings 11 an der Südküste von Sanday / Orkneys, die in manchen Zählungen nicht berücksichtigt werden. Bei den Strandungsserien im Frühjahr 1996 mit insgesamt 25 Pottwalen und im Winter 1997/98 mit insgesamt 27 Tieren kam es zu Massenstrandungen auf der dänischen Insel Rømø mit 16, bzw. 13 Pottwalbullen.
Die Strandungsserie des Frühjahres 2016 mit insgesamt 3o Tieren ist Gegenstand vieler Beiträge dieses Symposiums.
Warum nehmen die Strandungen seit Ende der 1980er Jahre zu? Zunächst kann dies ein Zeichen für die bessere Wahrnehmung und mediale Begleitung der Strandungen sein. Eine dünnere Besiedlung und ein eingeschränkter arbeitendes Nachrichtensystem vergangener Jahrhunderte können das Bild verzerren. Nach der Beendigung des Walfangs kann es zu einer Erholung der Bestände kommen. Ebenso kann aber auch die fortschreitende Industrialisierung der Nordsee mit Öl- und Gasförderung seit den 1960er Jahren, der zunehmende motorisierte Schiffsverkehr und Offshore-Windkraftparks seit der Jahrtausendwende die Orientierung der Pottwalbullen so beeinträchtigen, dass die, die in die Nordsee geraten sind, schwerer hinausfinden.
Fazit
Pottwalstrandungen an den Küsten sind aus historischer Sicht ein natürliches Phänomen. Eine Beeinflussung durch menschliche Aktivitäten in jüngster Zeit ist denkbar. Die historischen Daten bieten noch viel Stoff für unsere Neugier.
Literatur
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