Buchbesprechung von KLAUS BARTHELMESS, Köln
Bislang ist das bemerkenswerte Werk des frühneuzeitlichen Scheveninger Fischauktionators und Amateur-Meereskundlers Adriaen Coenenszoon van Schilperoort (1514-1587) nur relativ wenigen, niederländisch- und englischsprachigen Fachwissenschaftlern bekannt, die sich mit der Geschichte des Sammelns und der Naturwissenschaften in der Renaissance befassen. Auch Walkundlern war sein Oeuvre gelegentlich untergekommen, weil Wale in den Handschriften Coenenszoons recht prominent vertreten sind. Seit 1994 haben die niederländische Historikerin Florike Egmond und der englische Semiotiker Peter Mason in Aufsätzen Einzelaspekte der wissenschaftlichen Kompilationstätigkeit Coenenszoons behandelt. Seine Biographie legte Egmond 1997 als Buch vor: Een bekende Scheveninger, Adriaen Coenen, en zijn Visboeck van 1578. Scheveningen: Centrum voor Familiegeschiedenis, 1997, 173 S., illus.
Der Sohn Scheveninger Fischer wuchs in seinem Geburtsort auf und hatte dort verschiedene Ämter inne, darunter das eines „jutter“, eines offiziellen Strandkontrolleurs. Er war auch ein begeisterter, naturkundlich interessierter Sammler, der Strandfunde nach Hause brachte, präparierte und mit der Zeit eine Sammlung zusammentrug, die auch die Neugier von Leuten aus der sogenannten „besseren Gesellschaft“ weckte. Sie machten ihm die seit den 1550er Jahren verlegten, landes-, natur- und seetierkundlichen Schriften eines Gesner, Belon, Rondelet, Olaus Magnus und anderer in ihren Bibliotheken zugänglich, desgleichen Flugblätter und Zeichnungen, die sie mit der Geschäftskorrespondenz ihrer fernen Handelsagenten oder von fürstlichen Sammlerfreunden erhielten. Coenenszoons eigene Seetiersammlung und diese Schriften waren die Grundlage handschriftlicher Ausarbeitungen dieses an der Meeresfauna und maritimen Exotica hochinteressierten Mannes, der keine besondere Schulausbildung genossen hatte.
Wohl in den 1560er Jahren schrieb und illustrierte er einen meereskundlichen Band, den er 1574 Willem von Oranien schenkte, dem Führer des niederländischen Aufstandes gegen die spanische Fremdherrschaft. Dieser Band ist heute verschollen. 1577/1579 stellte er in gleicher, handschriftlicher Machart sein großes „Vis-Boek“ zusammen, das 412 Blätter zählt und seit etwa zwei Jahrhunderten in der Königlichen Bibliothek zu Den Haag aufbewahrt wird. 1585 schloss er eine weitere Arbeit ab, sein „Walvis-Boek“ zu 125 Blatt, heute in zwei Bänden in der Bibliothek der Königlichen Tierkundegesellschaft im belgischen Antwerpen. Ein viertes, 29 Seiten zählendes, unvollständiges und nur teilweise illustriertes Manuskript, wohl kurz von Coenenszoons Tod geschrieben, befindet sich im Historischen Archiv zu Köln, wo es vom Rezensenten entdeckt wurde. In niederländischem Privatbesitz befindet sich noch eine Entenwalzeichnung Coenenszoons von 1584.
Die hier anzuzeigende Buchausgabe enthält rund 125 Farbabbildungen aus dem Antwerpener „Walvis-Boek“. Darunter alle Waldarstellungen, eine repräsentative Auswahl anderer Seetiere, sowie sieben Vergleichsabbildungen aus dem Haager „Vis-Boek“. Coenenszoons umfangreiche Beischriften wurden für die Zutphener Ausgabe in modernem Niederländisch paraphrasiert und für die Londoner Ausgabe ins Englische übersetzt. Die Abbildungsqualität ist so, dass ein Paläograph eigene Transkriptionen herzustellen imstande ist.
Coenenszoons Zeichnungen und Texte liefern neben den zentralen Erkenntnissen über Wale viele Hinweise auf die Praxis historischer Schaustellungen präparierter Fische oder lebender Seehunde, auf die Geschichte des Sammelns, die beginnende naturwissenschaftliche Forschung, aber auch über alte volkstümliche Vorstellungen und Praktiken in Bezug auf Seetiere. Funde erratischer Fische verweisen auf frühere Klimaschwankungen. Vereinzelt erwähnt er Walstrandungen, die sonst in keiner anderen Quelle vermerkt sind.
Coenenszoons walbezogene Schriften sind ein Kompendium des – wie es scheint: gesamten – walkundlichen Wissens der Renaissance. Mir fiel kein Aspekt frühneuzeitlicher Cetologie auf, den Coenenszoon nicht erwähnt. Hier in die Tiefe zu gehen, seine Quellen – dort, wo er es nicht tut – zu identifizieren, Überlieferungen nachzuverfolgen und mit zeitgenössischem, aber auch heutigem Wissen abzugleichen, hätte ein renaissance-cetologisches Handbuch ergeben, das nun eben noch ungeschrieben bleibt. Insofern ist der Entschluss der Herausgeber, KEINE akademische Edition vorzulegen, sehr zu bedauern, wenngleich zu respektieren.
Die Einführung der Herausgeber ist eine populärwissenschaftliche Zusammenfassung ihrer früheren Forschungen. Die Literaturliste der niederländischen Ausgabe ist umfangreicher als die der englischen. Bis zum Abschluss des Manuskripts war der Band von Faust, Barthelmess & Stopp über Wal-Flugblätter (s. Fluke Heft 05, 2002) noch nicht erschienen, so dass wichtige Erkenntnisse aus dieser Arbeit für die vorliegende Edition noch nicht verwertet werden konnten (umgekehrt übrigens auch nicht).
Kees Lankester, einige Jahre lang niederländisches Mitglied des Wissenschaftsausschusses der Internationalen Walfangkommission, schrieb kurze Kommentare zu den dargestellten Seetieren. Sie lassen allerdings fachlich stellenweise zu wünschen übrig, so ist etwa tatsächlich von „Harems“ bei Pottwalen die Rede (S. 18), eine längst widerlegte Lehrmeinung. Da drei Antiwalfangorganisationen als Sponsoren der Buchausgabe auf der Impressumseite groß beworben werden, finden sich auch gelegentliche Stammtisch-Populismen gegen heute noch aktive Walfangkulturen, die in solch einem Werk deplaziert sind.
Die über 400 Jahre alte Vorlage ist allenthalben recht farbblass, und man entschied sich dafür, die Repros farblich nicht aufzupeppen. Kenner des Verlagsprospekts und früherer Farbabbildungen könnten daher etwas enttäuscht sein.
Trotz dieser Kritikpunkte ist das Buch ein Muss für den historisch und walkundlich interessierten, des Niederländischen nicht mächtigen Amateur. Allein als Coffee Table Book ist der Band mit seinen faszinierend fremdartigen Abbildungen sein Geld wert. Dem Profi ist erstmalig ein quantitativ zufriedenstellender Auszug aus Coenenszoons Oeuvre an die Hand gegeben.
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