Walfanggeschichte im Ohrenschmalz

von Tonya B. Hudson | Baylor University | Waco, Texas | 17. November 2018

Zwei Wissenschaftler der Universität Baylor können in den Gehörzapfen von Bartenwalen die Entwicklung von Stresswerten nachzeichnen. Dabei finden sie erstaunliche Korrelationen zu menschlichen Einflüssen auf die Lebenswelt der Wale in den letzten 150 Jahren.

Im Jahr 2013 haben Stephen Trumble, Sascha Usenko und Kollegen für Aufsehen gesorgt, als sie gezeigt haben, wie sie aus dem Gehörzapfen eines Blauwalbullens eine Lebensgeschichte der Umweltbelastung und des Hormonhaushaltes auslesen konnten (TRUMBLE et al., 2013). In einer Folgeuntersuchung konnten die Forscher der Universität von Baylor nun eine lebenslange Entwicklung von Stresspegeln bei Bartenwalen nachzeichnen. Bei Betrachtung der fast 150jährigen Geschichte von 20 Bartenwalen führen die Walforscher Stressreaktionen auf den Walfang und andere menschliche Einflüsse sowie Umweltfaktoren zurück.

Video von Hannah Wise und Sally Weale (The Natural History Museum), das Richard Sabin, Dr. Sascha Usenko und Dr. Stephen Trumble auf der Suche nach dem Gehörzapfen bei einem Zwergwal zeigt.

Stephen J. Trumble, Associate Professor für Biologie, und Sascha Usenko, Associate Professor für Umweltwissenschaften, beide am „College of Arts & Sciences“ der Universität von Baylor, analysierten mit ihrer sechs Jahre zuvor entwickelten Methodik die Schichten in den Gehörzapfen von Bartenwalen. Eine Wachstumsschicht steht dabei für einen Zeitraum von sechs Monaten.

Gehörzapfen bei Bartenwalen

Gehörzapfen eines Blauwals. (A) Schemazeichnung zur Lage des Gehörzapfens: (a) Schädelknochen, (b) Bulla tympanica, (c) Pars flaccida/Trommelfell (“Handschuhfinger”), (d) Cerumen (Gehörzapfen), (e) Äußerer Gehörkanal, (f) Gehörkanal, (g) Muskelgewebe, (h) Blubber, and (i) Epidermis. Grafik aus TRUMBLE et al., 2013

Es ist eine Besonderheit bei Bartenwalen, dass sich verhornte Epithelzellen im äußeren Gehörgang in Schichten zu einem Gehörzapfen anlagern, der mit dem Altern des Wals mehrere Dezimeter lang und bis zu einem Kilogramm schwer werden kann. Der Gehörgang hat keine Öffnung nach außen, wird also nicht von Wasser gespült und gereinigt. Ausgehend von einer Struktur am Trommelfell, dem „Handschuhfinger“ lagern sich saisonal abwechselnd dunklere und fettreichere helle Zellen an (ICHIHARA, 1959). Entdeckt wurden die Ohrzapfen im 19. Jahrhundert (BUCHANON, 1828). Seit Mitte des 20. Jahrhunderts ist bekannt, dass die abwechselnde Anlagerung von hellen und dunklen Zellschichten zur Altersbestimmung von Bartenwalen genutzt werden kann (LAWS & PURVES, 1956). Diese Methode wurde im Laufe der Jahre stark verfeinert.

Gespeicherter Stress

In Gehörzapfen von Finn-, Buckel- und Blauwalen aus Atlantik und Pazifik aus den Jahren zwischen 1870 und 2016, gelang es Trumble und Usenko, den Cortisol-Spiegel zu bestimmen. Cortisol ist ein Stresshormon, das bei Stresszuständen vermehrt in der Nebennierenrinde ausgeschüttet wird. Die Forscher führen in ihrer Veröffentlichung in der Fachzeitschrift Nature Communications die gemessenen Werte in den Ohrzapfen auf die Auseinandersetzung der Wale mit menschlichen Störungen durch industriellen Walfang, den Zweiten Weltkriegs und die Veränderung der Meeresoberflächentemperatur zurück.

„Dies ist die erste Studie zur Quantifizierung von Stressspiegeln bei Bartenwalen über die Zeit“, sagte Trumble. „Mit einem ermittelten Stressprofil, das fast 150 Jahre umfasst, zeigen wir, dass diese Wale Überlebensstress erlebten. Das bedeutet, dass die indirekten Auswirkungen des Walfangs, also Schiffslärm, Schiffsnähe und ständige Beunruhigung, zu einer vermehrten Ausschüttung von Stresshormonen über große Zeiträume führen.”

Walfang führt zu Wal-Stress

Durchschnitt des Cortisolwertes (Basiswert korrigiert) und Walfangzahlen des 20. Jhdts für Blau-, Finn- und Buckelwale auf der Norhalbkugel. Schraffiert: 2. Weltkrieg. Rote gestrichelte Linie zeigt den Marine Mammal Protection Act von 1972. Grafik aus TRUMBLE et al. 2018
Entnommener Ohrzapfen eines Blauwals; Gesamtlänge 25.4 cm. Photo aus TRUMBLE et al., 2013

Der Walfang hatte einen erheblichen Einfluss auf den Cortisolspiegel der Wale. In den 1960er Jahren, als der Walfang mit 150.000 gefangenen Walen seinen Höhepunkt erreichte, kam es auch zu einem Maximum bei den Kortisolwerten, In dieser Phase wurde nach den Erkenntnissen der Studie der höchste Cortisol-Durchschnittswert im 20. Jahrhundert erreicht.

Aber auch während des Zweiten Weltkriegs, als der Walfang zurückging, wiesen die Wale einen Anstieg der Cortisolwerte auf. Trumble und Usenko vermuten, dass die Auswirkungen des Krieges Grund dafür waren.

„Für die Bartenwale haben die Stressfaktoren, die von den Handlungen des Zweiten Weltkriegs ausgingen, möglicherweise die Stressfaktoren des industriellen Walfangs ersetzt“, sagte Usenko. „Wir vermuten, dass Kriegsaktivitäten wie Detonationen unter Wasser, Seeschlachten mit Schiffen, Flugzeugen und U-Booten sowie erhöhte Schiffszahlen dazu beitrugen, die Cortisolkonzentrationen während dieser Periode zu erhöhen.“

Als Mitte der 70er Jahre die Walfangmoratorien eingeführt wurden, nahmen die Walfangaktivitäten ab. Ebenso erreichte der Cortisolspiegel der Bartenwale die niedrigsten Konzentrationen.

Und wieder sorgen Menschen für Stress in der Natur

„In den 1970er Jahren bis in die 2010er Jahre waren die Walfangzahlen für die untersuchten Walarten in der nördlichen Hemisphäre den Berichten zufolge bei Null, aber der mittlere Cortisolspiegel stieg stetig an. Die jüngsten Messergebnisse erreichten die Höchstwerte, die vor dem Walfangstopp beobachtet wurden“, sagte Usenko.

Die Auswirkungen des Stresses auf Wale könnten größere Auswirkungen auf Bartenwale haben, die „als Anzeiger für den Zustand ihrer Umwelt und als Indikatoren für vom Menschen verursachte Stressoren“ gelten, sagte Usenko.

„Diese Studie zeigt, dass anthropogene Stressoren bei großen Walen zu einer physiologischen Reaktion führen. Diese chronischen Stressoren können Auswirkungen auf die Lebensgeschichte haben, beispielsweise auf die Fortpflanzungsfähigkeit,“ sagte Trumble. „Schließlich können auch vom Menschen verursachte Stressfaktoren, wie zum Beispiel die Erwärmung der Meeresoberflächentemperaturen, zu einem erhöhten Stresspegel dieser Wale führen.“

Die beiden Forscher arbeiten nun mit weiteren Museen zusammen und verfügen derzeit über mehr als 100 zusätzliche Gehörzapfen, die sie untersuchen können. Die bisher analysierten Ohrzapfen stammen aus einer Zusammenarbeit der beiden Walforscher mit dem Smithsonian Museum of Natural History und dem Museum of Natural History London.

Dieser Text basiert auf einer Presseinformation der Baylor University und wurde übersetzt und inhaltlich ergänzt von Jan Herrmann. Das Vorschaubild „Blauwal taucht ab“ stammt von Leigh Torres, Oregon State University (CC-BY-SA 2.0)

Literatur

ICHIHARA, T. (1959):
Formation mechanism of ear plug in baleen whales in relation to glove-finger.
Sci. Rep. Whales Res. Inst 14: 107-35.

LAWS, R. M. und P. E. PURVES (1956):
The ear plug of the Mysticeti as an indication of age with special reference to the North Atlantic fin whale (Balaenoptera physalus Linn.).
Norsk Hvalfangst-Tidende 45: 413-25.

LOCKYER, CHRISTINA H. (1984):
Report of the Minke Whale Ageing Workshop. Annex F. Age determination by means of the earplug in baleen whales.
in Thirty-Fourth Report of the International Whaling Commission, S. 692-96
International Whaling Commission, Cambridge.

TRUMBLE, S. J., E. M. ROBINSON, M. BERMAN-KOWALEWSKI, C. W. POTTER und S. USENKO (2013):
Blue whale earplug reveals lifetime contaminant exposure and hormone profiles.
Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America 110: 16922-26.

TRUMBLE, S. J., S. A. NORMAN, D. D. CRAIN, F. MANSOURI, Z. C. WINFIELD, R. SABIN, C. W. POTTER, C. M. GABRIELE und S. USENKO (2018):
Baleen whale cortisol levels reveal a physiological response to 20th century whaling.
Nature Communications 9:

Links

Dr. Sascha Usenko
Dr. Stephen J. Trumble