Whale Watching quer über die Nordsee

von J. Herrmann | cetacea.de | Wittmund | 31. August 2016

Mit der wahnwitzigen Vergünstigung von Flugreisen in den letzten Jahren mutet es fast exotisch an, eine Reise auf die britischen Inseln per Fähre zu unternehmen. So mancher Walfreund dürfte aber überrascht sein, welch interessante Ereignisse sich selbst bei einer Überfahrt über die Nordsee einstellen können. Wir begleiten hier den fiktiven Reisenden Herrn Hansen bei seinen ganz realen Erlebnissen an Bord der DFDS Fähre King Seaways. 

Studiert man nacheinander die Karten für Öl- und Gasplattformen, Offshore Windenergie Parks und den Schiffsverkehr auf der Nordsee, bekommt man leicht den Eindruck, dass es sich bei diesem Meer um ein Industriegebiet handelt und nicht um einen Lebensraum. Noch dazu ist die King Seaways, die Fähre, mit der Herr Hansen die Nordsee durchkreuzen wollte, 163 Meter lang und 28 Meter breit. Ein riesiger Pott, der einem eine emotionale Verbindung zur See nicht unbedingt nahelegt. Kein Wunder also, dass kaum Erwartungen an eine Sichtung von Meeressäugern bestanden.

Auf der anderen Seite war sich Herr Hansen bewusst, dass die SCANS Zählungen der Jahre 1994 (HAMMOND et al., 2002) und zuletzt 2005 (HAMMOND et al., 2013) nachgewiesen haben, dass sich im Gebiet der Schiffspassage zwischen Amsterdam und Newcastle fast 100.000 Schweinswale, ca. 500 Weißschnauzendelphine, ca. 3600 Zwergwale und noch einige andere Vertreter der Cetaceen aufhalten. Die zweite SCANS Zählung und auch jüngste küstennahe Zählungen vor der niederländischen (GEELHOED et al., 2013) oder der deutschen Küste (PESCHKO et al., 2016) legten nahe, dass sich die Schweinswale sogar bevorzugt in der südlichen Nordsee aufhalten würden. Von den Ergebnissen der dritten SCANS Zählaktion der europäischen Walforscher konnte Herr Hansen noch nichts wissen, denn diese fanden zur gleichen Zeit wie seine Reise statt und werden wohl erst in vielen Monaten zusammengefasst und veröffentlicht.

Überraschung auf der Fähre

Nachdem Herr Hansen die Grenz- und Zollkontrollen in Amsterdam IJmuiden überstanden und seine Kabine an Bord der Fähre gefunden hatte, hörte er mit halbem Ohr den dreisprachigen Ansagen zur Sicherheit, zu den Menüs und Einkaufsmöglichkeiten zu. Ganz erstaunt war er, als es inmitten dieser Ansagenflut plötzlich um Sichtungen von Walen und Delphinen ging. Es gäbe ein Angebot der Organisation ORCA, bei einem Kurzvortrag etwas über die Seevögel und Meeressäuger der Nordsee zu erfahren und sich später auf einem Sichtungsdeck am Bug des Schiffes selbst bei der Sichtung zu versuchen.

Dieses Angebot fand Herr Hansen mehr als erstaunlich, hatte er doch während der Auswahl des Fährunternehmens oder der darauf folgenden Buchung nichts von diesen Aktivitäten erfahren. 

Wave Watching mit ORCA

Das Büro von ORCA auf der King Seaways (Bild: J. Herrmann)

Natürlich suchte Herr Hansen zur angegebenen Zeit Deck 9 auf und fand das Büro von ORCA. Das Fährunternehmen DFDS hat der britischen Wal- und Meeresschutzorganisation ORCA auf der King Seaways einen Raum zur Verfügung gestellt, der als Büro, Vortragssraum, Ausstellung und Spielzimmer dient. An einer Wand schaffen ein gemalter Großer Tümmler, ein Weißschnauzendelphin und ein Zwergwal Atmosphäre, an den anderen Wänden finden sich Infoposter, Vitrinen mit Schädeln von Großem Tümmler, Schweinswal und Kegelrobbe sowie Seekarten, auf denen alle bisherigen Sichtungen eingetragen sind. Zwei Mitarbeiter von ORCA begleiten die Schiffsreisen zwischen Amsterdam und Newcastle und kümmern sich um die Besucher, halten Vorträge oder spielen mit Kindern. Wichtiges Ziel dieser Informationen sind die Folgen der Müllbelastung der Meere und deren Vermeidung. „Das ist wichtig“, dachte Herr Hansen, denn auf einem Schiff mit über 1300 Personen zählt jede Plastiktüte, die nicht unbedacht über Bord geworfen wird.

Die Vortragsecke im ORCA-Büro auf der King Seaways (Bild: J. Herrmann)

Zusammen mit fast 20 Mitfahrern lauschte Herr Hansen den Informationen über Meeressäuger und Seevögel. Danach folgte er der Wegbeschreibung zum Aussichtsdeck am Bug des Schiffes. Eine Wegbeschreibung war in diesem Fall hilfreich, denn die offizielle Ausschilderung bevorzugt Gastronomie und Shops und weniger das naturkundliche Angebot. 

Basstölpel und Trauerenten im Objektiv

Auf dem Aussichtsdeck versammelten sich dann rund um die ORCA Mitarbeiterin Kerry Heseltine zwei Dutzend Menschen, die Meeressäuger sehen wollten. Darunter waren auch zahlreiche Sichtungsprofis, unschwer an Größe und Gewicht der umgehängten oder auf dem Stativ platzierten Objektive zu erkennen. Gemeinsam überwachten dann alle vom 15 bis 19 Knoten schnell fahrenden Schiff die Wasseroberfläche und suchten nach besonderen Reflektionen. Bei weniger erfahrenen Naturkundlern setzte allerdings schnell die Ermüdung ein, so dass über die gesamte knapp zweistündige Sichtungszeit immer wieder Menschen kamen, guckten und wieder gingen. Glücklicherweise zeigten sich auf dieser Reise auch ausreichend Möwen, Basstölpel, Kormorane oder Trauerenten in der Luft, die leichter zu erkennen und dank der aushängenden Identifikationstafel problemlos zu bestimmen waren. Während Kerry Heseltine sichtete und erklärte, war ihre Kollegin mit einigen Kindern im Büro beschäftigt. Hier wurde gemalt und gebastelt. Vielleicht um dem von Künstler Izzy Moreau aus Meeresmüll zusammengesetzten Schweinswalmodell „Debris“ ein paar schöne Bilder zur Seite zu stellen. Später traf Herr Hansen Kerry Heseltine erneut, wie sie im Büro umringt von Passagieren über Zwergwale berichtete.

Wer zeigt sich wo?

Auf der niederländischen Seite werden vor allem Schweinswale gesichtet, an der englischen Küste sind Weißschnauzendelphine oder Große Tümmler fast genauso häufig. Gar nicht mal selten werden Zwergwale, Weißseitendelphine oder Gemeine Delphine gesehen. Zu den seltenen Sichtungen zählen Buckelwale, Finnwale, Pilotwale oder Rundkopfdelphine. Insgesamt wurden zwischen 2007 und 2015 über 4000 Wale gesichtet.

Herr Hansen hat am Abend solange gesichtet, bis sich die Wellen auf seiner Netzhaut eingebrannt haben, ohne auch nur eine Finne oder einen Robbenkopf erspäht zu haben. Am nächsten Morgen war er dann aber umso überraschter, als er beim Biss ins Frühstücksbrötchen plötzlich eine Gruppe Weißschnauzendelphine erspähte, die munter neben dem Schiff hersprangen.

Wo ist der Delfin? Kleiner Weißschnauzendelfin in großer Nordsee

Die Kooperation zwischen DFDS und ORCA ist ein vorbildliches Beispiel für Umweltbildung im kommerziellen Umfeld. Was gibt es besseres, als genau dort Hintergründe und Informationen über Tiere zu vermitteln, wo man sie auch direkt sehen kann. Außerdem werden hier Menschen erreicht, die sonst nie auf die Idee kämen, sich mit der Nordsee-Fauna zu beschäftigen. Schade ist nur, dass dieses tolle Angebot im ganzen Trubel an Bord etwas untergeht. Warum wird nicht schon vor der Reise mit dieser Reisebereicherung geworben?

Literatur

GEELHOED, S., M. SCHEIDAT, R. S. A. VAN BEMMELEN und G. AARTS (2013):
Abundance of harbour porpoises (Phocoena phocoena) on the Dutch Continental Shelf, aerial surveys in July 2010-March 2011.
Lutra 56: 45-57.

HAMMOND, P. S., P. BERGGREN, H. BENKE, D. L. BORCHERS, A. COLLET, M. P. HEIDE-JØRGENSEN, S. L. HEIMLICH, A. R. HIBY, M. F. LEOPOLD und N. ØIEN (2002):
Abundance of harbour porpoise and other cetaceans in the North Sea and adjacent waters.
Journal of Applied Ecology 39: 361-76.

HAMMOND, P. S., K. MACLEOD, P. BERGGREN, D. L. BORCHERS, L. BURT, A. CAÑADAS, G. DESPORTES, G. P. DONOVAN, A. GILLES, D. GILLESPIE, J. GORDON, L. HIBY, I. KUKLIK, R. LEAPER, K. LEHNERT, M. LEOPOLD, P. LOVELL, N. ØIEN, C. G. M. PAXTON, V. RIDOUX, E. ROGAN, F. SAMARRA, M. SCHEIDAT, M. SEQUEIRA, U. SIEBERT, H. SKOV, R. SWIFT, M. L. TASKER, J. TEILMANN, O. VAN CANNEYT und J. A. VÁZQUEZ (2013):
Cetacean abundance and distribution in European Atlantic shelf waters to inform conservation and management.
Biological Conservation 164: 107-22.

HAMMOND, PHILLIP S., C. LACEY, A. GILES, SACHA VIQUERAT, PATRIK BÖRJESSON, HELENA HERR, K. MACLEOD, V. RIDOUX, M. BEGOÑA SANTOS, MEIKE SCHEIDAT, JONAS TEILMANN, JOSÉ V. VINGIDA und NILS ØIEN (2017):
Estimates of cetacean abundance in European Atlantic waters in summer 2016 from the SCANS-III aerial and shipboard surveys: S.

PESCHKO, V., K. RONNENBERG, U. SIEBERT und A. GILLES (2016):
Trends of harbour porpoise (Phocoena phocoena) density in the southern North Sea.
Ecological Indicators 60: 174-83.

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Dieser Artikel erschien zuerst in Fluke Nr. 30.