Der Reiter auf dem Haizahn – Zur Erforschungsgeschichte von Squalodon

von Johannes Albers | cetacea.de | Essen | 7. Juli 2009

Retter und Geretteter: Squalodon servatus

1841 beschrieb von Meyer „den fragmentären Schädel eines den Delphinen verwandten Zetaze´s“ aus Baltringen in Württemberg, ohne zu bemerken, dass es sich dabei um eine andere Art von Squalodon handelte. Denn es waren keine hinteren Backenzähne erhalten, sondern nur solche Zähne, die weiter vorn in den Kiefern sitzen und mehr den einfachen Zähnen heutiger Wale ähneln. Grateloup hingegen hatte an seinem Stück nur die beschriebenen hinteren Zähne vorgefunden.

Der Schädel des Squalodon servatus im Staatlichen Museum für Naturkunde in Stuttgart. Zu sehen ist die rechte Seite. Das Stück stammt von Baltringen am Rißtal, südlich von Ulm. Dort hat man Fossilien verschiedener Walarten aus dem Zeitalter des Miozän gefunden.
Bild: Johannes Albers

Den Baltringer Schädel erhielt von Meyer durch den Stuttgarter Oberbaurat von Bühler in Form eines Gesteinsblocks, aus dem stellenweise einzelne Knochenteile heraussahen. Der Frankfurter legte einen Schädel mit abgebrochener Schnauze frei, von dem in der Länge 49 cm erhalten waren. Er war nicht so zusammengestaucht wie die Schädel heutiger Zahnwale: Von der Stirn aus knickte das Hinterhaupt eher sanft ab, und der Übergang von der flachen Stirn zur Schnauze verlief fast unmerklich – anders als bei heutigen Delphinen. Auch die typische Asymmetrie heutiger Zahnwalschädel war noch nicht ausgebildet. (Das heißt, die morphologische Spezialisierung auf hochfrequente Ortungslaute war noch nicht so weit fortgeschritten wie bei modernen Arten.) Die Schnauze des Tieres muss lang ausgezogen gewesen sein, die Zähne der oberen und der unteren Reihe griffen reißverschlussartig ineinander. Die Länge des Gesamttieres schätzte von Meyer auf über 4 Meter.

Er nannte dieses Tier Arionius servatus, zu deutsch: „geretteter Arion“. Der Name nimmt Bezug auf die griechische Geschichte vom Delphinreiter Arion, die in der deutschen Romantik des 18. – 19. Jahrhunderts aufgegriffen worden ist. (Ludwig Tieck brachte ein Arion-Lied in seinem Roman „Franz Sternbald´s Wanderungen“ von 1798.)

Der Sänger und Dichter Arion soll um 625 v. Chr. berühmt gewesen sein und kostbare Schätze errungen haben. Es heißt, auf der Fahrt von Italien nach Griechenland sei er auf einem Schiff unter Räuber gefallen, die ihn ermorden wollten. Er bittet sich aus, ein letztes Mal zu seiner Lyra zu singen und sich dann selbst ins Meer zu stürzen. Seine Musik lockt Delphine an, und als er ins Wasser springt, trägt ein Delphin ihn sicher an Land.

Wenn von Meyer den Retter (den Zahnwal) mit dem Geretteten (Arion) identifiziert, so erinnert das an den Zug antiker Mythik, dass Göttergestalten aus Menschenkörper und Tierleib (Schlange / Delphin / Fisch) kombiniert waren: Mit dem Delphin ist ursprünglich der Gott Apollo verbunden. Dann tritt an dessen Stelle sein Diener, der Dichter bzw. Sänger. Dabei wird die Menschengestalt vom Tier getrennt und ihm dann als Reiter wieder aufgesetzt. (Armin Schweda: Die Darstellung des Wals in Literatur und Kunst der Antike. Hof 1991.) Typisch mythisch, typisch griechisch! Die Namengebung von Meyers vollzieht mit der menschlichen Figur wieder die Verschmelzung, die ursprünglich der göttlichen zukam. Typisch mystisch, typisch romantisch!

Die Internationalen Regeln für zoologische Nomenklatur kümmern sich nicht um Mythen und Romantik. Die Walart, deren fossilen Schädel von Meyer bearbeitete, gehört zur selben Gattung wie Grateloups Squalodon und heißt nach besagten Regeln deshalb heute Squalodon servatus: „der gerettete Haizahn“.

Einen isolierten Zahn in der Sammlung von Bühlers, aus der gleichen Ablagerung wie der Schädel stammend, wertete von Meyer als Paratypus seiner neuen Art. In den 1850er Jahren stellte er auch verschiedene isolierte Zähne aus der Gegend von Passau zu „Arionius servatus„. Über solche Zähne meint der Mainzer Paläontologe Karlheinz Rothausen 1968, dass derartige Zuordnungen zu bestimmten Arten nicht zu vertreten sind. Gerade aus der Gegend von Passau wurde bereits im 19. Jahrhundert eine zweite deutsche Squalodon-Art beschrieben: Squalodon zitteli, benannt nach dem Münchener Professor Karl Alfred von Zittel. An diesem Schädel zeigte sich die lange Schnauze mit Zähnen gut erhalten, vom Unterkiefer fehlt der hintere Teil. Wenig ist vom Hinterhaupt geblieben, das dafür bei Squalodon servatus gut erhalten ist.

Ein Schädelfragment von einem Zahnwal aus Württemberg hatte bereits in den 1830er Jahren der Stuttgarter Dr. Georg Friedrich Jäger vorgestellt. 1850 ordnete er es „dem als Arionius servatus bezeichneten Delphin“ zu, wobei er vermerkte, dass er der Erste gewesen sei, der etwas von dieser Art bekannt gemacht habe. Er hatte seinem Bruchstück aber keinen Namen gegeben, und als wissenschaftliche Erstbeschreibung von „Arionius“ bzw. Squalodon servatus ist die Studie Hermann von Meyers anerkannt. Der Schädel von Baltringen ist heute in Stuttgart ausgestellt.