Eurhinodelphis & Co. – Wale mit Speerschnauze

von Johannes Albers | cetacea.de | Essen | 10. November 2008

Eurhinodelphis und ähnliche Wale: Ein systematisch-historischer Überblick

Wir sind nun so tief in die Materie eingedrungen, dass wir einen systematisch-historischen Überblick wagen können.

In Belgien kamen 1861 – 1863 beim Bau der Befestigungsanlagen von Antwerpen neben zahlreichen anderen Walknochen auch versteinerte Reste einer neuen Gattung ans Licht, die du Bus 1867 als Eurhinodelphisbekannt machte. Er unterschied eine ganze Reihe von Arten, denen er zum Teil auch eine andere Gattungsbezeichnung gab. Diese Vielzahl der Formen strich zu Beginn des 20. Jahrhunderts Othenio Abel in eingehenden Vergleichen auf drei Arten von Eurhinodelphis zusammen. Sie erreichten Körperlängen von rund 2 – 5 Metern und wurden später alle drei auch von der Grube Wiegerink in Gelderland (Osten der Niederlande) gemeldet:

      • Eurhinodelphis longirostris“ (= Schizodelphis longirostris) hat aufgrund der langen Schnauze auch (für einen Wal) ungewöhnlich lange Halswirbel. Abel zählte Reste von 71 Individuen aus Antwerpen. In Gelderland ist auch Miste bei Winterswijk ein bekannter Fundort.
      • Eurhinodelphis cristatus hieß bei du Bus „Priscodelphinus cristatus”. Abel zählte Reste von 32 Tieren aus Antwerpen. In Gelderland auch von Miste und Meddo bei Winterswijk bekannt. 1994 erstmals aus dem Mittelmeerraum (Süditalien) beschrieben. Auch von der Atlantikseite der USA belegt. Der Brustkorb ist auffallend breiter als bei der folgenden Art.
      • Eurhinodelphis cocheteuxi, die größte der drei Arten und in Antwerpen auch die häufigste: Abel zählte 116 Individuen, ein Fund aus jüngster Zeit ist sogar mit den Gehörknöchelchen Hammer und Steigbügel erhalten. In Gelderland auch von Meddo bekannt. Versuchsweise zu dieser Art stellte 1925 der Niederländer van Deinse auch ein Schädelstück von Zwillbrock an der deutsch-niederländischen Grenze.

1901 machte Othenio Abel Eurhinodelphis zur Typusgattung einer neuen Walfamilie mit Namen „Eurhinodelphidae“. Um der sprachlichen Einheitlichkeit willen hat man diesen Familiennamen Ende der 90er Jahre in Eurhinodelphinidae geändert, entsprechend dem Namen Delphinidae für die Delphine. Früher war auch der Konkurrenzname „Rhabdosteidae“ weit verbreitet, bereits 1871 durch Theodore Nicholas Gill eingeführt. Denn ähnliche Walreste wie in Antwerpen fand man ab 1867 in Maryland (USA). Ihre Gattungszugehörigkeit erschien zunächst unsicher; Edward Drinker Cope beschrieb einen Schädelrest unter dem Namen Rhabdosteus latiradix. 1918 fand dann Norman H. Boss ein vollständigeres Fossil, bei dem Schädel und Wirbel erhalten waren. Dieses Tier beschrieb der berühmte Walforscher Arthur Remington Kellogg als Eurhinodelphis bossi.

Christian de Muizon hielt noch 1985 „Rhabdosteidae“ für den gültigen Familiennamen. Aber 1988 fand er, dass die Typusart für die „Rhabdosteidae“ von unsicherer Einordnung und dieser Name daher abzulehnen ist.

Die Familie als solche betrachtete Abel als Schwestergruppe der rezenten Ziphiidae (Schnabelwale). Auch von ihnen kennt man Fossilien mit extrem langer Schnauze (Mesoplodon longirostris). Auf diesem Hintergrund wirkt es verwirrend, wenn in populärer Literatur „Eurhinodelphis longirostris“ gelegentlich als „Schnabelwal“ angesprochen wird. Zu dem Schwestergruppen-Verhältnis gelangt jüngst auch eine computergestützte Analyse von Olivier Lambert, die freilich nur acht heutige und acht ausgestorbene Zahnwal-Taxa umfasst. Die Ähnlichkeiten zwischen beiden fraglichen Familien versteht Slijper hingegen schon 1936 in seinem vergleichend-anatomischen Monumentalwerk „Die Cetaceen“ als bloße Konvergenzerscheinungen.

Slijper leitete die Eurhinodelphinidae von primitiven Squalodontidae ab. Auch der Amerikaner Lawrence G. Barnes sah noch zu Beginn der 90er Jahre eine enge Verwandtschaft zwischen Eurhinodelphinidae und Squalodontidae. Aber in der Zwischenzeit hatte Christian de Muizon eine neue Systematik entwickelt:

Darin bilden, gemäß altbekannter Theorie, die Squalodonten und andere fossile Wale eine gemeinsame Gruppe mit dem heutigen Ganges- bzw. Indusdelphin. Dieser Gruppe (Überfamilie Platanistoidea) stehen nun die Delphinida gegenüber. Dazu zählen die Delphine und Tümmler etc., einschließlich Amazonas-, La-Plata- und Yangtse-Delphin. Zwischen beiden Gruppen siedelt Muizon als eigene Überfamilie die Eurhinodelphoidea an. Sie bestehen aus den Eurhinodelphinidae und den Eoplatanistidae aus dem Mittelmeerraum.

Von miozänen Süßwasser-Vertretern der Eurhinodelphinidae berichtet Robert Ewan Fordyce 1983 aus der Lake-Frome-Gegend Südaustraliens. Die weit verbreitete Familie ist auch von beiden Seiten Südamerikas belegt.

Derweil werden manche italienischen Formen, die als Eurhinodelphis beschrieben wurden, heute nicht mehr als Angehörige dieser Gattung anerkannt:

      • Eurhinodelphis sassariensis“, 1887 von Giovanni Capellini beschrieben und womöglich zu einer ganz anderen Familie im Bereich der Delphinida gehörig,
      • Eurhinodelphis salentinus“, 1950 durch Moncharmont Zei beschrieben und versuchsweise zur Gattung Argyrocetus gestellt,
      • Eurhinodelphis bellunensis“, 1985 durch Giorgio Pilleri beschrieben und ebenfalls vermutlich ein Argyrocetus.

In Italien ist möglicherweise auch Schizodelphis longirostris(= „Eurhinodelphis longirostris“) vertreten.

Nachdem 1926 Hikoshichiro Matsumoto den Eurhinodelphis pacificus aus Japan vorgestellt hatte, erhob sich Zweifel an der Gattungszuordnung auch dieses Tieres. Auf der anderen Seite des Pazifiks wurde 1935 „Eurhinodelphis extensus“ als frühmiozäne Art aus Kalifornien aufgestellt. Dieses Taxon ordnete man später in die Synonymie von Argyrocetus joaquinensis ein.

Weitere Gattungen der Eurhinodelphinidae sind Ziphiodelphisaus dem Mittelmeer und Macrodelphinus, der aus Kalifornien bekannt ist und dessen Humerus 1935 zunächst einem Bartenwal zugeschrieben wurde.

Als 1975 die Bestimmung des Biemenhorster Zahnwals anstand, brachte die Presse neben Eurhinodelphis auch die Gattung Acrodelphis ins Gespräch und nannte sie dabei fälschlich „Arcodelphis“. Diese miozäne Gattung hatte Abel bereits 1899 beschrieben und 1905 zur Typusgattung einer eigenen Familie „Acrodelphidae“ gemacht. Die sollte in manchen Merkmalen den Eurhinodelphinidae ähneln, wobei aber die Unterkiefer und bezahnten Maxillae oft bis zur Schnauzenspitze reichen. (Daher 1975 vielleicht auch die übertriebene Bezahnung auf der Zeichnung des Pressebeitrags zum Bocholter Fund.) Christian de Muizon kam 1988 jedoch zu dem Schluss, dass die „Acrodelphidae“ gar keine natürliche Einheit darstellen, sondern Vertreter aus unterschiedlichen Familien umfassen und als Taxon unbrauchbar sind.

Daraufhin verschwanden die „Acrodelphidae“ auch bei so prominenten Autoren wie R. Ewan Fordyce und Lawrence G. Barnes aus den systematischen Übersichten. Das ist u.a. deshalb bemerkenswert, weil Abel seine „Acrodelphidae“ als Stammgruppe mehrerer Walfamilien angesehen hatte, so auch der Eurhinodelphinidae.

Ein Acrodelphis-Wirbel aus Freetz ist in Bremervörde ausgestellt. Die hinteren Zähne dieser Gattung erinnern in ihrer Kronenform noch an urtümlichere Wale: Sie sind mit Nebenhöckern und einem gezähnelten Rand versehen. Ein möglicher Acrodelphis-Zahn wurde im Mai 2000 aus dem linksrheinischen Braunkohle-Tagebau Hambach (Hambach 6 C) beschrieben. Ein ähnlich aussehender Zahn stammt aus dem Mittelmiozän von Xanten-Hochbruch.

Zu den „Acrodelphidae“ zählte man klassischerweise die Gattung Schizodelphis (auch als „Cyrtodelphis“ beschrieben), die man in Anschluss an Muizon heute den Eurhinodelphinidae zuordnet. Bekannt ist hier vor allem die Art Schizodelphis sulcatus, deren Holotyp aus Südfrankreich stammt und deren Schädelzeichnung in Bremervörde ausgestellt ist. In dieser Gattung steht nun aber auch die Art, die früher als „Eurhinodelphis longirostris“ geführt wurde.