Buchbesprechung von JOHANNES ALBERS,
aus Anlass des 90. Geburtstages von Jean Craighead George.
Die berühmte amerikanische Autorin von Kinder- und Jugendbüchern mit Naturthemen, Jean Craighead George, wird am 2. Juli 2009 neunzig Jahre alt. Über hundert Bücher hat sie verfasst. Ihr berühmtestes ist Julie von den Wölfen
, im Original von 1972 (dtv junior 7351). Hier aber soll ein anderes gewürdigt werden, das ebenso wie jenes bei den Ureinwohnern Alaskas spielt:
Der Ruf des weißen Wals
befasst sich mit der Jagd der Inupiat-Eskimos auf Grönlandwale. Die Anregung zu diesem Buch erhielt die Autorin durch Besuche bei ihrem Sohn John Craighead George, einem bekannten Erforscher der Grönlandwale in Barrow, an Alaskas Nordküste. Viele Eindrücke und Erlebnisse kann sie daher aus erster Hand literarisch gestalten. Zu den detailgetreuen Zeichnungen des Buches gehört auch eine höchst informative Skizze über den Aufbau der Eislandschaft mit ihren verschiedenen Elementen wie Treibeis, Packeis etc.
Das Buch erschien zu einer Zeit, als der Schutz der Wale zu einem Dogma in der Welt der Weißen geworden war, und die Jagd der Eskimos manchen Walschützern zu einem Dorn im Auge. Damals bestätigte gerade die Wissenschaft, was die Eskimos schon immer behauptet hatten: dass es vor Alaska Tausende Grönlandwale gab, genug um die streng regulierte Jagd der Ureinwohner zu tolerieren, die vom weltweiten Walfangverbot ausgenommen war. Für Manchen eine bittere Pille.
Genau diese Problematik macht den Inhalt der Erzählung aus: Der jugendliche Schüler Lincoln Noah aus dem alten US-Walfangzentrum New Bedford ist der Ururenkel eines Yankee-Walfängers, der mit dem Abschlachten von Grönlandwalen ein Vermögen verdient und die Villa der Familie finanziert hat. Lincolns Onkel Jack ist ein Naturbursche und zog als Walforscher nach Alaska, um den Eskimos die Abkehr vom Walfang zu predigen, damit der Grönlandwal nicht ausgerottet wird. Bald aber ließ er bei Lincoln nichts mehr von sich hören.
Nun wird Lincoln selbst von seinem Vater auf eine Reise nach Alaska geschickt, damit er seine dortigen Wurzeln kennen lernt. Zunächst freilich weiß Lincoln gar nicht, dass seine Ururgroßmutter eine Eskimofrau war. Auf den Eisfeldern vor Barrow lernt er, wie wichtig der Walfang für die Kultur der Inupiat ist. Dabei erfährt er auch die neuen Ergebnisse der Wissenschaftler, die mit optischen und akustischen Methoden Bestandszählungen an den vorüberziehenden Walen durchführen. Erst mit Verzögerung trifft er auf seinen Onkel Jack: Der hat aufgrund seiner Forschungen und neuen Erfahrungen die politische Seite gewechselt und tritt nun für das Recht der Eskimos auf Walfang ein.
Lincoln, bei seiner Ankunft in Barrow noch gegen die Waljagd eingestellt, steigt nach unerwarteten Wendungen des Schicksals schließlich selbst mit Onkel Jack und einer jungen Eskimo-Mannschaft in ein Paddelboot, um einen Grönlandwal zu jagen. Ein historisch-realer Südländer
in Barrow, der tatsächlich mit den Eskimos auf Walfang fuhr, heißt Tom Saxton. Anders herum übernimmt die Autorin den Namen Tom Albert: In ihrem Buch ein Hubschrauber-Pilot, ist der reale Tom Albert ein Biologe, der schon mal einem toten Grönlandwal ins Maul kriecht.
Lincolns Crew erbeutet ihren Wal, der nach Ansicht der Eskimos gezielt gekommen ist, um sich Lincoln Noah hinzugeben. Sein Heil bringender Opfertod stiftet Versöhnung und Frieden in der Gesellschaft der Eskimos und sogar interkulturell. Profan ausgedrückt: Walfang schweißt die Leute zusammen, was Konflikte und soziale Spannungen abbaut. Botschaft der Autorin ist ein Ausgleich zwischen den Belangen der Tiere und der indigenen Menschen. In diesem Sinne hat innerhalb der Story auch Lincoln Noah seinen Namen erhalten: benannt nach dem Menschenfreund Abraham Lincoln und zugleich nach dem Tierfreund Noah, der alle Arten in seiner Arche rettete. Menschen und Tiere gehören zusammen, man darf sie nicht gegeneinander ausspielen.
Die Autorin entfaltet ein realistisches Bild des modernen Eskimolebens mit Schneemobilen, Fernsehern und Funk-Kommunikation, mit Alkohol und Drogen. Sie hütet sich vor jeder Schwarz-Weiß-Malerei und zeichnet ein differenziertes Bild mit stets gerecht verteilten Licht- und Schattenseiten. So wird jede Hauptlinie, die sie entwirft, durch irgendeinen Gegenstrich relativiert: Sind es z.B. walfangbezogene Traditionen, die für den sozialen Zusammenhalt sorgen, so gibt es doch dabei auch unsinnige oder schädliche Elemente, die Zank und Streit unter den Inupiat hervorrufen.
Die Verfasserin nennt konkrete Fangquoten für einzelne Gemeinden und sagt für den damaligen Zeitpunkt korrekt, dass neun Gemeinden Alaskas Quoten für Grönlandwale besitzen. Diese Zahl hat sich in den 90er Jahren auf zehn erhöht, als die Insel Little Diomede hinzukam. Dass das komplizierte Quotierungssystem in dem Buch vereinfacht dargestellt wird, darf man als Rücksichtnahme auf das jugendliche Zielpublikum werten. Immerhin sind die Internationale Walfangkommission und das Ignorieren der Quoten durch einzelne Jäger genannt. Solche Details unterstreichen die hohe Qualität des Buches.
Kaum ins Gewicht fällt dagegen, dass ein Versuch, den Eskimo-Walfang zu verbieten, mit der Jahreszahl 1970 etwas zu früh angesetzt ist, oder dass es nicht korrekt ist, das Paukenbein (Bulla tympanica) aus dem Ohr des Wals als seinen Gleichgewichtsknochen
zu bezeichnen. Die Entstehungszeit des Buches entschuldigt auch, dass noch keine Schwierigkeiten für die Wale durch Ölsuche und Klimawandel thematisiert werden, wenn auch die Problematik seismischer Erkundungen damals bereits in der Fachwelt diskutiert wurde.
Also keine ernsthafte Kritik an dem Buch? Doch, sicher:
Ein heikler Punkt bei Eingeborenen-Walfang sind die Tierschutz-Aspekte: Primitive Waffen bedeuten oft einen langen Todeskampf für die betroffenen Tiere. Regt ein harpunierter Wal sich nicht mehr, wartet man in Alaska zur Sicherheit noch eine Weile ab, bevor der Kapitän des Bootes entscheidet, dass man sich nun gefahrlos dem Tier nähern kann. Erst zu diesem Zeitpunkt stimmen die Jäger ihr übliches Dankgebet an.
Diese Wartezeit bis zum Gebet beträgt beim heutigen Einsatz von Geräten mit moderner Penthrit-Sprengladung ca. 15 Minuten. Doch mit Penthrit experimentierte man in Alaska erst ab 1988, als unser Buch bereits in deutscher Fassung erschien. Mit dem zuvor verwendeten Schwarzpulver dauerte die Wartezeit im Durchschnitt eine geschlagene Stunde. Jean Craighead George aber will ihre Helden die alte Tradition der Vorväter erleben lassen: Sie entwirft die Gestalt des letzten Walfängers, der noch ganz ohne Schusswaffen und Sprengladungen auf Fang geht. Seine Lanze trägt eine Steinspitze. Der Zufall will es, dass mit seiner Ausrüstung nun die jungen Leute in See stechen und die alte Fangtradition weiterführen. Dabei geruht der Buch-Wal sofort zu sterben, und sogleich stimmen die Jäger ihre Gebete und Lieder an.
Das Buch ist im Buchhandel vergriffen, kann aber noch gut antiquarisch bestellt werden. Dafür empfehlen wir booklooker.de oder zvab.com.
Diese Verharmlosung des Todeskampfes ist Gegenstand meiner größten Kritik an der Erzählung von Mrs. George. Historisch haben die Inupiat in Alaska Harpunenspitzen aus Stein im 20. Jahrhundert nicht mehr verwendet. Aber gerade der Sohn der Schriftstellerin fand 1992 in einem erlegten Wal eine alte Steinspitze, wie später noch weitere entdeckt wurden. Schon zehn Jahre zuvor hatte der Eskimo Fred Ahmaogak aus Wainwright in einem Wal eine alte Harpune aus Elfenbein gefunden. Nach Namen und Herkunft ist es dieser Mann, der die Autorin zu ihrer Figur des Traditionalisten inspiriert hat. Die Funde alter Harpunenspitzen deuteten darauf hin, welch biblisches Alter Grönlandwale erreichen können: nach neueren biologischen Untersuchungen über zweihundert Jahre. So gesehen, ist für einen Wal Jean Craighead George noch immer eine junge Frau. Herzlichen Glückwunsch!
Links:
Homepage von Jean Craighead George
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