Herman Melville: Moby-Dick (Hörspiel)

von Johannes Albers | Cetacea.de | Essen | 7. Mai 2024

Rezension von Johannes Albers

Marathon-Lesungen des kompletten Melville-Romans „Moby-Dick oder Der Wal“ sind eine Sache, ein „Moby-Dick“-Hörspiel eine andere. Die Lesungen sind heute fast schon Tradition; bereits vor einem Dutzend Jahren entstand in England auch eine mp3-Version für den kostenlosen Download. Doch selbst wenn man in die Lesung etwas Musik einstreut, wird daraus noch kein Hörspiel. Hier aber geht es um eine deutsche Audio-Bearbeitung, die neben epischen Erzähler-Passagen vor allem szenische Darstellungen beinhaltet. Sie kann nicht den vollständigen Romantext wiedergeben, umfasst aber doch eine Laufzeit von immerhin neun Stunden und wird in einem bebilderten Booklet von ausgiebigen Begleittexten unterstützt. Ein sehr gelungenes Hörspiel-Werk, das nicht in Vergessenheit versinken sollte!

Moby-Dick ist ein Pottwal. Das weiß doch jeder, oder?

Herman Melville:
Moby-Dick

Hörspiel auf 10 CDs mit Booklet (72 S.).
Der Hörverlag, München 2002.
ISBN 3-89940-254-5

Diese Publikation aus dem Jahre 2002 ist vom Bayerischen Rundfunk produziert (BR/ Hörspiel und Medienkunst) und in antiquarischen Angeboten heute günstig zu erwerben. Sie besteht aus einem Karton mit 10 CDs (jeweils in Einzelhüllen) und dem Booklet von 72 Seiten. 

Für dieses Projekt wurde ein künstlerisch designtes Meeresbild geschaffen, das sich als optisches Leitmotiv auf den Vorderseiten der CD-Einzelhüllen, der Titelseite des Booklets und bei einer Ausführung des Kartons (EAN / ISBN: 9783895849930) auf dessen Deckel findet. Es lässt zwar Wellen erkennen, zeigt aber keinen Moby-Dick. Das ist bedauerlich. Doch in einer anderen Version wurde der Karton auch mit dem Foto eines Wals gefertigt, eines leibhaftigen… – Buckelwals! Dieser Schildbürgerstreich (einzig ein Pottwal wäre angemessen) führt dazu, dass die Schrift unter dem Titel schwer lesbar ist. Deshalb sei sie hier wiedergegeben:

„Bearbeitung, Komposition und Regie: Klaus Buhlert
Sprecher: Rufus Beck, Felix von Manteuffel, Manfred Zapatka u. v. a.“

Gut lesbar ist diese Beschriftung in der Deckelversion mit dem Wellenbild. Sie wiederholt sich aber auch auf der Titelseite des Booklets und den Einzelhüllen der CDs.

Diese Hüllen geben auf ihrer Rückseite die Titel der einzelnen Hörkapitel (Tracks) an, die auf der jeweiligen CD enthalten sind. Da sie für jede Scheibe separat nummeriert sind (anders als die fortlaufende Kapitel-Nummerierung im Roman),lassen sich mit dem CD-Player bestimmte Tracks gezielt aufsuchen. Eine Übersicht über die Tracks aller CDs gibt das Booklet. Dort und auf den Einzelhüllen ist auch die jeweilige Laufzeit der CD angegeben: in der Regel ca. 54 Minuten. Nur bei CD 1 sind es ca. 53 und bei CD 10 ca. 55 Minuten. Man versteht, wie die Aufteilung den Erfordernissen einer Ausstrahlung als Radioserie folgt.

Moby-Dick gibt’s vielfach interpretiert: Die Textvorlage

Basis des Hörspiel-Projektes war die 2001 erschienene Moby-Dick-Textausgabe des Münchner Carl Hanser Verlages mit der damals neuen deutschen Übersetzung von Matthias Jendis. Demgegenüber bezeichnete der Kölner Walfangkenner Klaus Barthelmeß die erst 2004 vollständig erschienene Übersetzung von Friedhelm Rathjen als „die beste deutsche Moby-Dick-Übersetzung aller Zeiten“ (Herman Melville / Deutsch von Friedhelm Rathjen (2004): Moby-Dick; oder: Der Wal. Eine leviathanische Neuübersetzung – Cetacea.de). 

Moby-Dick Übersetzungskunst

Sehen wir uns exemplarisch nur einmal eine Stelle an, um einen Eindruck von den Übersetzungen zu bekommen:

  • Herman Melville schreibt in seinem cetologischen Romankapitel 32, der Pottwal sei „the Macrocephalus of the Long Words“ (Collins-Classics-Ausgabe, London 2013, S. 141).
  • Als Beispiel für eine ältere Verdeutschung diene die Übersetzung durch Alice und Hans Seiffert (1956): „der Makrocephalus der gelehrten Freunde langer Wörter“ (insel taschenbuch 233, 2. Aufl. 1987, S. 196).
  • Der von Klaus Barthelmeß bevorzugte Friedhelm Rathjen übersetzt: „der Macrocephalus der Langwortfreunde“ (Ausgabe Jung und Jung, Salzburg und Wien 2016, S. 202).
  • Matthias Jendis aber schreibt: „der Macrocephalus der Langewortemacher“ (Lizenzausgabe dtv, München 3.Aufl. 2020, S. 232). So erklingt es auch im Hörbuch (CD 3, Track 5: Cetologie).

Erzähler wechseln

Der Medienrezensent Thomas „Luke“ Rippert hat bereits kritisiert, dass das Hörspiel eine Abweichung von der Romanvorlage in puncto Erzähler vornimmt: Neben dem romangetreuen Erzähler Ismael wird hier auch Herman Melville selbst als eine zweite Erzählerfigur installiert, die einen Teil von Ismaels Roman-Passagen übernimmt. Das stört aber beim Hören nicht wirklich. Und abseits hochtrabender Rechtfertigungsversuche, die das Booklet für diese Maßnahme anbietet (angeblich sei Ismael ein zu junger und ungestümer Charakter für die bedächtigen Betrachtungen eines Melville), darf man ganz banal bedenken, dass etwas stimmliche Abwechslung bei einem so langen Werk mit so vielen Erzähler-Passagen den Ohren gut tut. Ismael wird von Rufus Beck gesprochen, Melville-Sprecher ist Felix von Manteuffel.

Furchteinflößender Ahab

Die Darstellung des Kapitäns Ahab durch Manfred Zapatka, mit einer Sprache wie spitze Giftpfeile, wurde zu Recht als „teilweise furchteinflößend“ geschildert (Rippert). Eine andere Facette dieses Ahab zeigt ihn ruhig und sachlich abgeklärt vor sich hin murmelnd, wenn er über die Seekarte gebeugt seinen Kurs absteckt. Beides sind die zwei Seiten ein und derselben Medaille, die zusammen das Prinzip des „Wahnsinns mit Methode“ überzeugend umsetzen. Bedenkt dann ein moderner Hörer, dass die Sprechsilben des Namens Ahab abgekürzt A. H. ergeben, dann setzt wahrhaftes Erschaudern ein. Eindrücklicher kann man den Ahab nicht zu Gehör bringen!

Beste Besetzung für Queequeg

Der Harpunier Queequeg aus Tahiti wird von einem echten Tahitianer mit teils deutschen Vorfahren gesprochen: Rudolph Taruoura war in seiner Südsee-Heimat mit 12 Jahren dabei, als sein Großvater von einem Ausleger-Kanu aus einen Wal harpunierte und erlegte. Später zog er nach Deutschland, heiratete hier und nahm in diesem Zuge den Namen Rudolph Grün an. Das Booklet stellt ihn als Rudolph Taruoura Grün vor. Seine weiche Stimme wirkt für einen Südsee-Insulaner weit authentischer als der knorrige Queequeg aus dem berühmten John-Huston-Film von 1956. Eine passendere Besetzung lässt sich nicht auftreiben, zumal Herr Grün auch in seiner tahitianischen Heimatsprache spricht und singt.

Man hört freilich auch Dialoge zwischen Queequeg und Ismael, die im Romantext so nicht vorkommen. Denn Beschreibungen und Schilderungen Melvilles wurden szenisch ausgestaltet. Das ist ein deutlicher Unterschied zu einer reinen Lesung des Originaltextes und macht das Hörspiel zu einer eigenen Kunstform. Es richtet sich an Menschen, die schon vorab damit vertraut sind, dass Moby-Dick ein weißer Wal ist: CD 1 enthält in einem Traum Ismaels, während der ersten Gasthaus-Übernachtung, ein Vorab-Zitat aus CD 4 mit philosophischen Betrachtungen, in denen wie selbstverständlich bereits Moby-Dick als weißer Wal genannt wird. Auch das ist natürlich eine klare Abweichung vom Romantext. Und hier kommen wir zurück zu dem Buckelwal:

An manchen Stellen, an denen etwa Bezüge zu übernatürlichen Sphären ausgedrückt werden sollen, ertönen leise im Hintergrund Buckelwal-Gesänge. Im Einzelfall geht das in Ordnung, aber in der mehrfachen Wiederholung fragt man sich doch, ob die Laute womöglich implizit dem Moby-Dick zugeschrieben werden, was eine ebensolche Fehlleistung wäre wie das Buckelwal-Bild auf dem Karton.

Lohnenswertes Booklet

Wie der Romantext nicht komplett eingesprochen werden konnte, so enthält auch das Booklet nur Auszüge aus dem umfangreichen Textanhang der Carl-Hanser-Ausgabe. Dies betrifft sowohl das Nachwort des Herausgebers Daniel Göske, als auch das „Glossar ausgewählter nautischer Begriffe“ des Übersetzers Matthias Jendis. Letzteres zeigt in seiner gekürzten Fassung eine spürbare Lückenhaftigkeit. So endet im Booklet die Erläuterung zu „Mars“: „[…] Bezeichnung der vom Deck aus zweiten Etage von Segeln und Spieren“ (S. 61). Was aber Spieren sind, bleibt dem Laien unklar. In der kompletten Version des Glossars erfährt der Buchleser hingegen: „Spiere: allgemeine Bezeichnung für Rundhölzer wie Masten, Stengen oder Rahen“. Stenge und Rah sind dann wiederum auch im Booklet erklärt.

Trotz Kürzung lesenswert ist das Nachwort Daniel Göskes (immer noch 20 Booklet-Seiten!), das sich mit Entstehungsgeschichte, Interpretation und Wirkungsgeschichte des Romans Moby-Dick ebenso befasst wie mit der Biographie des Autors Herman Melville. Daneben enthält das Booklet auch ein 13 Seiten langes Interview mit dem Hörspiel-Regisseur Klaus Buhlert, der interessante Einblicke in die Audio-Bearbeitung gibt. So erfährt man, dass das Zerhacken von Walfleisch akustisch umgesetzt wurde, indem man auf einen Stapel nasser Zeitungen einschlug. 

Fast sieben Seiten nehmen die Erläuterungen von Redakteur Herbert Kapfer ein, der sich mit den deutschen Übersetzungen und mit Moby-Dick-Bearbeitungen für Theater, Film und Hörspiel befasst. Außerdem enthält das Booklet Kurzbiographien von diversen Sprechern zentraler Rollen.

Eine willkommene Verständnishilfe ist schließlich im Booklet die Zeichnung „Aufriss eines typischen Walfängers“, die es Nichtexperten erleichert, sich beim Hören an Bord von Ahabs Schiff Pequod zurechtzufinden. Freilich sind die Beschriftungen in der Zeichnung auf Englisch, so dass man mit der Zeichnung einerseits und dem deutschen Glossar andererseits erst einmal in Ruhe ein wenig Übersetzungsübung betreiben sollte, bevor man die CDs sich um und um drehen lässt wie das Ankerspill der Pequod, wenn sie aufbricht zur großen Jagd auf Moby-Dick.

Literatur

Klaus Barthelmeß: Herman Melville / Deutsch von Friedhelm Rathjen (2004): Moby-Dick; oder: Der Wal. Eine leviathanische Neuübersetzung. Fluke 10 (2005) und Cetacea.de:
Herman Melville / Deutsch von Friedhelm Rathjen (2004): Moby-Dick; oder: Der Wal. Eine leviathanische Neuübersetzung – Cetacea.de

Herman Melville: Moby Dick. Harper Press (Collins Classics), London 2013.

Herman Melville: Moby Dick. Übertragen von Alice und Hans Seiffert. insel taschenbuch 233, 2. Aufl. 1987 mit Holzschnitten von Rockwell Kent. 

Herman Melville: Moby-Dick oder Der Wal. Herausgegeben von Daniel Göske. Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Matthias Jendis. dtv, München 3. Aufl. 2020 (2017). Lizenzausgabe nach Carl Hanser Verlag, München 2001.

Herman Melville: Moby-Dick oder Der Wal. Der Hörverlag bei Penguin. Regie Klaus Buhlert. Hörbuch Download, Laufzeit: 9h, ISBN: 978-3-8445-0316-6 (Leider wird nicht angegeben, ob das 72seitige Booklet beim Download enthalten ist).

Herman Melville: Moby-Dick; oder: Der Wal. Deutsch von Friedhelm Rathjen. Ausgabe Jung und Jung, Salzburg und Wien 2016. Nach der Ausgabe von Zweitausendeins, Frankfurt/ Main 2004.

Thomas „Luke“ Rippert: Lukes Meinung …der subjektive Multimedia Blah-Blog: https://www.lukes-meinung.de/einzelhoerspiele/moby-dick-hoerverlag/

University of Plymouth, The Arts Institute: Moby Dick Big Read. https://www.mobydickbigread.com/

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