Buchbesprechung von HOLGER BITTLINGER
Das erste gedruckte deutsche Walfangjournal ist nicht der berühmte und viel zitierte „Martens“ von 1675, der 1923 in Faksimile und 2002 als moderner Nachdruck erschien, sondern ein kleines Heftchen von 24 Seiten, das sieben Jahre vor Martens gedruckt wurde: Christian Bullen, „Eines Seefahrenden Journal oder Tag-Register“, Bremen, 1668. Lange Zeit war nur ein einziges Exemplar dieses Bremer Büchleins bekannt, und das wurde im Zweiten Weltkrieg auch noch russische „Beutekunst“. Doch außer einem weiteren Exemplar der Erstausgabe 1668 wurde nun eine bislang völlig unbekannte zweite Ausgabe 1677 entdeckt und für die kommentierte Neuausgabe herangezogen. In Zusammenarbeit mit dem Amsterdamer Maritim-Verlag De Bataafsche Leeuw machte das Deutsche Schifffahrtsmuseum in Bremerhaven dieses erste gedruckte deutsche Walfangjournal nach 335 Jahren nun wieder der Öffentlichkeit zugänglich.
Das Original hat nur 24 Seiten und ist nicht illustriert, die Neuausgabe hat 128 Seiten und ist opulent bebildert, zum großen Teil in Farbe. Herausgeber der seltenen Schrift und Autor des umfangreichen Kommentars ist der Kölner Walfanghistoriker und Sammler Klaus Barthelmess.
Das Buch beginnt mit einer 9-seitigen Einführung über die Teilnahme deutscher Seestädte am Arktiswalfang im 17. Jahrhundert. Beginn und erste Blüte des deutschen Walfangs werden hier in eine europäische Perspektive gesetzt. Das Kapitel stützt sich auf neueste, internationale Forschungen und geht weit über das hinaus, was die „Klassiker“ zur deutschen Walfanggeschichte wie Wanda Oesau geschrieben haben.
Es folgen zwei kurze Kapitel über die Wirkung von Bullens Buch in der Literatur und über druckkundliche Aspekte der beiden erhaltenen Exemplare.
Nahezu nichts ist über den Autor bekannt, außer, dass er wohl schon mehrfach als Seeoffizier in der niederländischen Handelsschifffahrt gefahren war, bevor er 1667 auf einem Hamburger Walfänger anheuerte. Leider werden Schiff und Reeder von Bullen nicht identifiziert, was in zwei weiteren kurzen Kapiteln erörtert wird.
Auf den nächsten 35 Seiten folgt das wichtigste Kapitel, das in mehreren Unterkapiteln den Wert von Bullens „Tag-Register“ als historische Quelle behandelt. Dazu brachte Barthelmess den Fahrtverlauf erst einmal in eine übersichtliche Tabellenform. Schiffspositionen und Ereignisse treten dadurch deutlich hervor und können so für ganz verschiedene Forschungsinteressen leicht ausgewertet werden. Das betrifft in erster Linie Biologen, die sich mit der Geschichte der Walpopulationen und ihrer Ausbeutung befassen, denn genau diese Ausbeutungsgeschichte spielt heute eine große Rolle im Wissenschaftsausschuss der IWC. Bullens Schiff brachte einen „Segen“ von vier Grönlandwalen und einem Nordkaper heim. Bemerkenswert ist, dass zwei der Grönlandwale tot gefunden wurden und zwei weitere Nordkaper verwundet entkamen. Das passt gut zu anderen Quellen der Zeit und setzt entsprechende Statistiken auf eine solidere Basis. Aber auch Klimaforscher kommen auf ihre Kosten und finden eine gute Beschreibung der starken Eislage des Jahres 1667 vor.
Ein siebenseitiger Fremdbeitrag von Hendrik Busmann über Bauweise und Takelung von Bullens Walfangschiff wendet sich an Schiffbau- und Navigationshistoriker. Busmann steuerte auch den Schiffsriss einer Walfangfleute bei. Weitere Unterkapitel widmen sich sozialgeschichtlichen Aspekten der Quelle, etwa der Polarfahrerfolklore des 17. Jahrhunderts und frühen Anzeichen von Sozialkritik in Bullens Text. Besonders wertvoll ist eine Zusammenstellung aller zwölf gedruckten deutschen Journale vom arktischen Walfang, die man bisher nirgends hat finden können. Barthelmess hängt daran eine interessante Erörterung von „Literarizität“ bei Walfängern in niederem Mannschaftsrang auf, denn Bullen, Seeoffizier bei den Niederländern, fuhr auf dem Hamburger Schiff nur im Mannschaftsrang. Wichtig ist auch der Fahrtverlauf selber, denn er belegt ein bisher nicht bekanntes Reisemuster: Ende Juni 1667 verließen die Walfangschiffe den Fanggrund vor Spitzbergen, fuhren für drei bis vier Wochen nach Nordnorwegen, um Nordkaper zu fangen, und kehrten dann wieder für ein paar Wochen zum Grönlandwalfang nach Spitzbergen zurück.
Es folgt dann auf über 40 Seiten die buchstabengetreue Umschrift von Bullens 24-seitigem Druck, so dass Forscher auch nach dem Original zitieren können. 13 Seiten Anmerkungen und 10 Seiten Literatur- und Quellenverzeichnis schließen diese wissenschaftliche Edition ab, zu der auch mehrere Karten und Tabellen gehören.
Dort, wo der Kommentar oder die Umschrift Gesichtspunkte ansprechen, die etwas ausführlicher als in einer Endnote diskutiert werden sollten, sind – teils illustrierte – „Kästen“ eingefügt, manche über mehrere Seiten. Nicht wenige von ihnen räumen mit populären Irrtümern auf. Da geht es um arktischen Robbenfang oder Walfangmotive zeitgenössischer Hamburger Künstler, Schiffsverluste beim Arktiswalfang, das Smeerenburg-Garn oder die Legende von Schwertfischangriffen auf Wale, um technische Einzelheiten der Walfangschaluppe, Bartenverwendung oder beim Auskochen des Walspecks zu Tran. Zwei Kästen behandeln altes, volkstümliches Wissen über Wal-Fortpflanzung und angeblichen „Sexismus“ bei Walen. Arktische Trichinose und Hypervitaminose A, häufige Risiken für frühe Polarfahrer und Walfänger, werden erörtert, die völkerrechtliche Frage, wem ein Wal gehört, und noch einiges mehr.
Ganz ausgezeichnet ist die Bebilderung. 70 Abbildungen, knapp die Hälfte in Farbe, führen den Lesern tatsächlich die Lebenswirklichkeit der Walfänger vor über drei Jahrhunderten vor Augen, wie der Umschlagtext verspricht. Die oft erstmals veröffentlichten Darstellungen vertiefen immer auch einen im Text behandelten Gesichtspunkt. Etwas nervig sind allerdings die ständigen Abbildungsnachweise auf die beachtliche Walfangsammlung des Autors, aus der zahlreiche Illustrationen stammen. Ein wenig mehr Bescheidenheit hierbei hätte dem schönen Buch sicher gut getan.
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