Besprechung von KLAUS BARTHELMESS, Köln
Redman, Nicholas:
Whales’ bones of the British Isles.
o.O. [Teddington]: Redman Publishing, 2004. xxii + 417 S., zahlreiche s/w Abb., Karten, fester Einband, 27 x 19,5 cm, Schutzumschlag.
ISBN 0-9545800-0-1.
£ 30.00.
Bestellungen bei:
Nicholas Redman, 237 Harrowdene Gardens, Teddington, Middlesex, TW11 ODP, England.
Eine Manifestation der ewigen Faszination der Menschen durch die Wale sind die Walknochenmonumente, die jeder von uns schon einmal gesehen hat. Oft an Orten, an denen man sie nicht erwarten würde, lässt sich in Europa doch eine gewisse Konzentration solcher Relikte bei den Nordseeanrainern Großbritannien, Niederlande, Deutschland und Dänemark feststellen. Bis auf eine niederländische Kleinschrift in limitierter Auflage (200) von J. Ayolt Brongers (Walvissen en stadhuizen. Amsterdam: AD&L, und Amersfoort: Bibliotheca Brongersiana, 1995. 23 Seiten) war monographisch bislang nichts über das Thema Walknochenmonumente erschienen. Nicholas Redman hat sich seiner nun in einem monumentalen Werk angenommen.
Akribische Walknochensuche
Nahezu 1000 Großwalknochen und –knochengruppen an über 650 Örtlichkeiten der Britischen Inseln sind hier mustergültig dokumentiert. Die richtungweisende Arbeit hat über 1100 schriftliche Quellen ausgewertet (alle in der Literaturliste erfasst), dazu hunderte von Interviews mit Ortsansässigen und Lokalhistorikern, ferner hunderte von Bildquellen, und der Autor hat in 30-jähriger Forschung – das Wort „Besessenheit“ wird ihn nicht kränken – fast jede einzelne der dokumentierten Stellen verschwundener oder noch vorhandener Walknochenrelikte besucht. Zu jedem einzelnen Walknochenrelikt schrieb er die Geschichte anhand der Quellen und zugänglichen Informationen auf.
Ein Quellenwerk, das an Akribie so gut wie nichts zu wünschen übrig lässt, zudem gut lesbar und vorzüglich durch Anhänge, darunter Karten, erschlossen ist. Vier Seiten Anhang listen Walkiefertore auf, acht Seiten Walknochen in verschiedenen funktionalthematischen „Kategorien“, etwa Walknochen in Brückenkonstruktionen, als Gebäudeteile, an Schlössern und Befestigungen, als Scheuerpfähle für das Vieh, auf Friedhöfen und in Kirchen, ferner Cottages, Landhäuser und Gehöfte, Kneipen, Brauereien, Hotels sowie Parks, Felder, Straßen und Plätze, die nach Walknochen benannt sind, Literaturstellen, Legenden, literarische Anekdoten, Gedichte, Monster- und Spukgeschichten mit Bezug auf Walknochen, Bodenfunde, eine Liste der ältesten Walknochen von 1497 bis 1799, Wirtshausschilder aus Walschulterblättern oder Schildergalgen aus Walrippen oder –kinnladen, montierte Walskelette, Schemel und Stühle aus Walknochen, sowie Listen einzeln aufbewahrter Walknochen, gruppiert nach Knochenart, also Kieferast, Schulterblatt, Schädel, Wirbel, Rippe, oder Walknochen in Museen, Aquarien und Zoos. An dieser Stelle hätte man sich zusätzlich eine Auflistung von Walknochenmonumenten gewünscht, die von Strandungen herstammen. Denn speziell die historische Strandungsforschung ist auf oft schwer zugängliche lokalhistorische Quellen angewiesen, um möglichst vollständige Zeitserien solcher Ereignisse rekonstruieren zu können. Gleichwohl sind Strandungsforscher auch mit dem Durcharbeiten von rund 400 Seiten gut bedient, immerhin ist dies schon eine Ersparnis von Forschungszeit, die der Autor in 30 Jahren für sie erledigt hat.
Ästhetik von Walknochen
Dieses Durcharbeiten ist sogar ein sinnliches Vergnügen. Hunderte von meist historischen Abbildungen ergänzen, nein: zieren das Werk. Es ist eine geradezu trüffelschweinische Freude, mit den Augen den oft im Bild „versteckten“ Knochen zu „erschnüffeln“. Nahezu alle Knochen eignen – aus dem richtigen Blickwinkel betrachtet – eine Ästhetik organischer Form, die gefällig ist, und große Knochen tun dies in gleichsam plakativer, demonstrativer Weise. Sicher hat diese visuelle Ästhetik auch zur Errichtung von Erinnerungsbauten aus Walknochen angeregt, ebenso wie ihre funktionale Form die Verwendung als Bauteile in Brücken-, Dach- und Stützkonstruktionen und vor allem als Torbogen – wie aus der Formenlehre gotischer Baumeister – stimuliert. Ein zusätzlicher ästhetischer Reiz liegt in der Kombination von unbelebtem oder zerfallendem Material mit belebtem, immer wieder neu wachsenden. Dergleichen ist in unübertrefflicher Weise etwa zu finden in japanischen Zen-Gärten oder, europäischer Romantik näher liegend, bei Ruinen in grüner Naturlandschaft, auf Friedhöfen oder eben bei verwitternden Walknochen im Gras, im Garten, vor wucherndem Gewächs, bemoost oder von Efeu umrankt. Man kann verstehen, dass Nick Redman ihnen ein Dritteljahrhundert lang erlegen ist. Verzichtet hat er auf eine Analyse oder Interpretation solcher Bauten, die sicher in bezug auf etliche Kategorien – etwa Walknochen an Gebäuden weltlicher und kirchlicher Herrschaft – möglich und angesichts der zu kurz greifenden Interpretation bei Brongers (1995) auch sicher wünschenswert gewesen wäre. Redman gibt dem Benutzer des Werks eine reine Quellensammlung an die Hand.
Die Ausstattung ist seiner 30-jährigen Obsession angemessen. Ordentliches Papier, Fadenheftung, fester Einband, vorzügliche Bild- und Druckqualität, eine sehr schöne, unprätentiöse, angenehm antiquarische Drucktype und ein gelungener Schutzumschlag fallen dem Benutzer auf. Ein Motto aus Moby-Dick(“Oh, Time, Strength, Cash and Patience!”) und die Entscheidung, wie Melville dem monumentalen Werk ein Kapitel literarisch-antiquarischer “Extracts” voranzustellen, sind eine gänzlich unvermessene, sympathische Spielerei.
Ein zweiter Band über Walknochen außerhalb der Britischen Inseln ist in Vorbereitung, und Hinweise aus aller Welt sind Nick Redman willkommen. Er wird seine Informanten wie im vorliegenden Band in akribischer Weise vermerken.
Siehe auch:
Barthelmess, K. (2010):
Buchbesprechung: Whales’ bones of Germany, Austria, Czech Republic & Switzerland
von Nicholas Redman. Redman Publishing, Teddington, 2009.
https://www.cetacea.de/redman-nicholas-b-2009-whales-bones-of-germany-austria-czech-republic-switzerland/
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