„Moby-Dick: der Walbulle im Porzellanladen der Weltliteratur.“ (D. Göske)
von Dr. LUTZ WALTHER
Unter dem Titel „Die weiße Maske des Nichts“ veranstaltete das Literaturhaus Köln in diesem Jahr eine große Melville-Retrospektive zu Ehren des 150. Jahrestages der Erstveröffentlichung von Herman Melvilles Roman Moby-Dick. Von Februar bis November wurden Lesungen, Vorträge, Opernaufführungen sowie Film- und Diashows in den Räumen des Literaturhauses, der Kölner Oper, des Kölner Filmhauses und des Restaurantschiffes „Albatros“ präsentiert. Begleitet wurden die Veranstaltungen von einer kleinen Ausstellung im Literaturhaus, einer Reihe von Rundfunksendungen des WDR sowie einigen Artikeln in der Kölner Presse.
19. Februar 2001 – Foyer der Oper Köln
Thomas Böhm: Billy Budd oder die Gebrechlichkeit der Welt
Im Rahmen der Reihe „Heute im Foyer“ veranstalteten die Bühnen der Stadt Köln in Zusammenarbeit mit dem Literaturhaus einen Informationsabend aus Anlaß der Wiederaufnahme der Oper Billy Buddvon Benjamin Britten. Thomas Böhm, Programmleiter des Literaturhauses, führte in einem halbstündigen Vortrag in Melvilles postum veröffentlichte Erzählung ein. Der Schauspieler August-Ernst Schepmann und der ARD-Sprecher Jörg Hustiak lasen einige Passagen aus Billy Budd. Musikalisch begleitet wurden sie von Karl Huml (Bass) sowie Ernst Buscagne (Bariton), die mehrere Ausschnitte aus Brittens Oper vortrugen. Am Klavier saß Rubert Burleigh.
20. Februar – Oper Köln
Billy Budd von Benjamin Britten
Britten wählte für seine Oper, zu der E. M. Forster und Eric Crozier das Libretto schrieben, eine andere Dramaturgie als Melville. Britten läßt die Geschichte im Rückblick von Billy Budds Kapitän Vere erzählen, der gezwungen war, Billy zum Tode zu verurteilen. Sein Leben lang hat Vere die Frage beschäftigt, ob er Billy hätte retten können. „So muß dieses zutiefst pazifistische Stück, das als leidenschaftliche Anklage jeder Form von Krieg nur das beispielhafte Verhalten eines naiven, barbarischen jungen Matrosen entgegensetzt, leise und nachdenklich ins Nichts verklingen – am Ende steht die Stille der letzten Worte des Kapitäns, die Stille einer unausgesprochenen Frage, der Frage, wann unsere Welt so sein wird, daß Billy Budd nicht mehr sterben muß.“ (Willy Decker, Regisseur der Aufführung)
Weitere Aufführungen fanden statt am: 20.2. / 23.2. / 28.2. / 3.3. / 6.3 / 9.3. / 11.3. / 14.3.
1. März – Literaturhaus Köln
Norbert Wehr & Jörg Hustiak: Das Leichentuch des Meeres.
Zunächst stellte Norbert Wehr, Herausgeber des Schreibhefts, im Zusammenspiel mit Jörg Hustiak Owen Chases Bericht vom Untergang des Walfängers Essex vor. Dieser war 1820 von einem großen Pottwal gerammt worden und gesunken. Zwar konnten alle zwanzig Besatzungsmitglieder die Rettungsboote besteigen, doch nur fünf überlebten die neunzigtägige Odyssee über den offenen Pazifik; drei weitere Seeleute wurden später von der unbewohnten Insel Henderson gerettet. Herman Melville lernte 1841 Owen Chases Sohn William Henry kennen und erfuhr so von dem Bericht, der in Kapitel 45 von Moby-Dickerwähnt wird und als Hauptquelle für die Untergangsszene der Pequodangesehen werden kann. – Danach lasen Wehr und Hustiak abwechselnd aus Melvilles Briefwechsel mit Nathaniel Hawthorne sowie diejenigen Passagen aus Melvilles Reisetagebuch, die seinen Aufenthalt in Köln im Jahre 1849 zum Inhalt haben.
30. März – Literaturhaus Köln
Robert K. Wallace & Lutz Walther: Die Leinwand des Meeres – Frank Stellas Moby-Dick Serie
Frank Stella (geb. 1936) begann 1985, für jedes der 135 Kapitel von Moby-Dick eines oder mehrere abstrakte Kunstwerke zu erschaffen: Zeichnungen, Gemälde, Skulpturen und Plastiken. Die Werke haben zum Teil walhafte Dimensionen von über sechs Metern. Stella war nicht daran interessiert, die Handlungsabfolge des Romans nachzubilden oder einzelne Szenen genau darzustellen, sondern ließ sich vom Geist
des Romans, seinem Rhythmus und Fluß treiben. Er versuchte nicht, die Beziehungen zwischen den einzelnen Kapiteln herauszuarbeiten, sondern strebte ein Gesamtkunstwerk an, dessen einzelne Teile in Harmonie, Kontrast oder Überraschung zusammenwirken. – Der Literaturwissenschaftler und derzeitige Vorsitzende der Melville-Society, Robert K. Wallace, präsentierte sein vor kurzem erschienenes Buch Frank Stella’s Moby-Dick Series: Words and Shapes (Ann Arbor: University of Michigan Press) anhand einer einstündigen Diashow. Der Vortag wurde in englischer Sprache gehalten und von Lutz Walther zusammenfassend übersetzt.
23. Mai – Filmhaus Köln
Die lange Melville Filmnacht
Gezeigt wurden die Originalfassungen von zwei Klassikern der Melville-Cinematographie sowie einer Neuverfilmung: John Hustons Moby Dick(1956), Peter Ustinovs Billy Budd (1962) und Leo Carax’ Pola X (nach Melvilles Roman Pierre; or The Ambiguities). Dem Kölner Filmhaus ist es gelungen, die einzige in Europa erhältliche amerikanische Originalfassung (in Farbe und ohne Untertitel) des Huston Klassikers zu Die Referenten der Moby Dick Tage (Photo: Hans Günter Contzen)
2.-4. November – Im Literaturhaus Köln und auf dem Restaurantschiff „Albatros“: Moby-Dick Marathon
Fr. 2. Nov. (20 – 2 Uhr) – Etymologie-Kap. 23 (Lit.haus)
Sa. 3. Nov. (14 – 4 Uhr) – Kap. 24-80 (Lit.haus)
So. 4. Nov. (11 – 1 Uhr) – Kap. 25-Epilog (Schiff)
Der erste Moby-Dick Lesemarathon in Köln und wahrscheinlich der erste in Deutschland überhaupt. Was für ein fantastisches Erlebnis! 29 Stunden Lesezeit (40 Stunden inkl. Pausen), drei Tage in Folge. Die Intensität, Melvilles Hauptwerk über eine derart lange Zeit zu hören und zu lesen, steht in keinem Vergleich zum stillen Lesen zu Hause. Die einzelnen Wörter kriechen förmlich in den Kopf und hinterlassen Bilder von großer und langanhaltender Eindringlichkeit.
Die Lesung bot den Höhepunkt der Veranstaltungsreihe „Die weiße Maske des Nichts“, mit der das Literaturhaus Köln das 150jährige Jubiläum des Erscheinens von Moby-Dick; or The Whale am 14. November 1851 (18. Oktober 1851 in England) feierte. Gelesen wurde der Roman auf Deutsch (in den Übersetzungen von Matthias Jendis und Friedhelm Rathjen) von etwa 40 Lesern und Leserinnen: professionellen Schauspielern, Radiosprechern, Persönlichkeiten des Kölner Politik- und Kulturlebens sowie Freunden und Mitarbeitern des Literaturhauses. Daneben wurden Fischsuppe, Knabbergebäck und Süßigkeiten sowie Bier, Wasser und Kaffee zur Stärkung gereicht. Etwa 130-150 Personen besuchten die Veranstaltung; kein einziger zeigte genug Kraft, die gesamte Lesung zu verfolgen. (Der einzige Überlebende war Thomas Böhm.)
„Sonntag, 9. Dezember 1849 in Köln. Vor dem Frühstück aufgebrochen und den Weg zum berühmten Dom gefunden, wo der ewige „Kran“ auf dem Turm steht.“ (H. Melville, Die Reisetagebücher, Achilla Presse)
Nein, Sonntagmorgen ging man nicht wie Melville in den Dom, sondern fand sich auf dem Restaurantschiff Albatros ein, wo der dritte Tag der Lesung stattfand. Der Morgen des 4. November war neblig, grau und sehr kalt. Große Containerschiffe tauchten aus dem Nichts auf und schienen gerade in das schwankende Restaurant zu steuern. Die wenigen Zuhörer, die morgens um 10 Uhr den Weg zum Rhein fanden, fühlten sich wie zu Beginn einer langen Walfangreise. Gegen Mittag klarte das Wetter auf und das Schiff füllte sich mit Gästen und Zuhörern.
Zu den Höhepunkten der Lesung gehörten u.a. Kap. 9 (Die Predigt), das mit großem Nachdruck von einem professionellen Schauspieler gelesen wurde; Kap. 35-37, die von Archaic Pop/Die Kulturtechniker musikalisch begleitet wurden; Kap. 24 (Der Anwalt), gelesen vom Rechtsanwalt des Literaturhauses; Kap. 40 (Auf der Back), bei dem das gesamte Publikum mitwirkte; Kap. 44 (Die Seekarte), das von einem echten Walfänger und Walfangexperten vorgestellt wurde, und Kap. 133-135 (Die Jagd), bei dem noch etwa ein Dutzend Melville-Anhänger schlaftrunken, mit roten Augen, gegen Hunger, Müdigkeit und Skorbut kämpfend andächtig lauschten.
Anhang:
Der WDR übertrug u.a. folgende Beiträge: „Das große weiße Echo. Moby-Dick oder Auf den Spuren einer Apokalypse“ von Guido Graf; „Walgesänge. Herman Melville. Moby-Dick und die Musik” von Guido Graf und Norbert Wehr, und „150 Jahre Moby-Dick“ von Ulrike Klausmann.