Büsumer Wissenschaftler untersuchen Strandungen der vergangenen 291 Jahre. Von Dieter Höfer
Eigentlich haben sie in der Nordsee nichts verloren, doch schon seit Jahrhunderten verirren sich Pottwale immer wieder in dem für Ozeanbewohner recht flachen Wasser und müssen dort qualvoll verenden. Meist werden Umwelteinflüsse als Ursache dafür genannt, dass die riesigen Meeressäuger von ihren uralten Wanderwegen im offenen Atlantik abkommen. Es könnte aber auch mit Eruptionen auf der Oberfläche der Sonne zu tun haben.
90 Prozent der Pottwale strandeten im Zeitraum von 1712 und 2003 bei heftiger Aktivität auf der Sonne, und nur 10 Prozent bei geringer Sonnenaktivität. Das haben der Diplom-Physiker Dr. Klaus Vanselow und der Diplom-Geologe Dr. Klaus Ricklefs herausgefunden. Beide arbeiten als Wissenschaftler am Forschungs- und Technologiezentrum (FTZ) in Büsum, einer Einrichtung der Universität Kiel.
Auf ihren Wanderungen durch den Atlantik passieren die Pottwale auch den „Eingang“ zur Nordsee zwischen England und Norwegen – und schwimmen eigentlich daran vorbei. Die Nordsee ist zu flach und bietet ihnen keine Nahrung. Wenn aber doch Tiere fälschlich nach Süden abbiegen, wurden bislang der Lärm von Bohrinseln oder Schiffen sowie die Verschmutzung der Meere dafür verantwortlich gemacht. Begründung: Der Orientierungssinn der Meeressäuger werde dadurch gestört. Eine Erklärung, die für Vanselow und Ricklefs zu kurz gegriffen ist. Immerhin lassen sich Pottwal-Strandungen seit Jahrhunderten belegen. Zeiten also, in denen sich der umweltschädigende Einfluss des Menschen noch nicht in der beschriebenen Weise bemerkbar gemacht hat. Um 1700 gab es halt noch keinen Bohrinsel-Lärm und keine die Tiere krankmachenden Chemikalien.
Was es aber schon damals gab, das war der Einfluss der Sonne. So wie der Mond für Ebbe und Flut verantwortlich ist, so hat die Aktivität der Sonne Einfluss auf das Magnetfeld der Erde. Die Sonne ist ein unvorstellbar großes Kraftwerk. Doch sie arbeitet nicht konstant. „Sie arbeitet in Zyklen mit unterschiedlich heftiger Sonnenaktivität, die im Mittel elf Jahre dauern“, erklärt Dr. Klaus Vanselow. Besonders heftige Gas-Eruptionen auf dem Zentralgestirn sind sogar als sogenannte Sonnenflecken von der Erde aus mit bloßem – aber geschütztem! – Auge sichtbar. Die Sonnen-Eruptionen führen im Weltraum unter anderem zu magnetischen Stürmen, die wiederum auf der Erde häufig beeindruckende Polarlichter erzeugen.
Wenn der Sonnenzyklus kürzer als elf Jahre ist, gibt es mehr und heftigere magnetische Stürme. Ist der Zyklus länger als elf Jahre, sind die Ausbrüche energetisch weniger gehaltvoll, und die Sturmaktivität ist geringer. In den 291 Jahren von 1712 bis 2003 wurden 217 gestrandete Pottwale in der Nordsee registriert. Die beiden FTZ-Wissenschaftler haben festgestellt: 90 Prozent von ihnen verendeten bei kurzen Sonnenzyklen, und nur 10 Prozent bei langen.
Nach einer Eruption trifft ionisierte Materie, der sogenannte Sonnenwind, „auf das Magnetfeld der Erde und verändert es kurzzeitig“, sagt Dr. Klaus Ricklefs. Und genau dieses Magnetfeld benötigen die Tiere zur Navigation. Es funktioniert weltweit und auch unter Wasser. Ricklefs: „Eine Art biologisch nutzbares Globales Positionierungs-System.“
Das Magnetfeld überzieht die Erde wie ein unsichtbares Netz. „Die unterschiedliche Zusammensetzung der Erdkruste erzeugt Magnetfeldanomalien“, so Ricklefs. Nicht nur Walen, sondern auch Vögeln und Insekten dienen diese natürlichen Anomalien als Orientierungsmöglichkeit. Spaziergänger, die in einem großen Wald unterwegs sind, orientieren sich bei ihren weiteren Waldgängen vielleicht auch am abgebrochenen Ast eines Baumes.
Wenn Sonnen-Eruptionen das Magnetfeld auf der Erde für Stunden oder Tage stören, werden die Wale fehlgeleitet. Mitten auf dem Ozean ist das nicht weiter schlimm, die Tiere schwimmen schlimmstenfalls einige Tage in die falsche Richtung. Für Pottwale, die sich aber zufällig in Nordsee-Nähe befinden und falsch abbiegen, hat die kurzzeitige Veränderung jedoch eine tragische Konsequenz. „Für sie wird die Nordsee zur Lebendfalle“, sagt Dr. Vanselow.
Dieser Artikel erschien am 6.4.2005 in der Dithmarscher Landeszeitung. Wir danken der Dithmarscher Landeszeitung und Dieter Höfer für die freundliche Genehmigung zum Abdruck dieses Artikels.