Wale des europäischen Atlantiks – Aktuelle Bestandsschätzungen

von Sonja von Brethorst | TiHo / ITAW | Hannover | 2. Oktober 2023

Wo leben welche Walarten? Und wie entwickeln sich die Bestände? Ein internationales Forschungsteam stellte Ergebnisse zu Populationsgrößen und zur Verteilung von Walen in der Nordsee, Ostsee und angrenzenden Gewässern des europäischen Atlantiks vor.

Blauwal aus der Luft photographiert. Eine Blauwalsichtung zählt zu den selteneren Ereignissen bei den europäischen Sichtungsflügen.
Ein Blauwal – fotografiert aus einem der Flugzeuge. © Ghislain Dorémus

Forschende acht europäischer Länder erfassten im Sommer 2022 über sechs Wochen die Anzahl der Kleinwale in der Nordsee und den angrenzenden europäischen atlantischen Gewässern. Dabei nutzten sie Kleinflugzeuge und ein Forschungsschiff. Jetzt liegen die Auswertungen der Zählungen vor. Insgesamt 1,4 Millionen Wale, Delfine und Schweinswale leben in den Gewässern von Südnorwegen bis Portugal. Dr. Anita Gilles, Institut für Institut für Terrestrische und Aquatische Wildtierforschung der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover (TiHo) koordinierte das Projekt mit dem Namen „Small Cetaceans in European Atlantic waters and the North Sea (SCANS-IV)“. Es ist der vierte Durchlauf der SCANS-Reihe, die 1994 begann. SCANS ermöglicht Schätzungen zur Populationsgröße und -verteilung von Walen und Delfinen im europäischen Atlantik. Weitere Zählungen erfolgten 2005 und 2016. 

Europakarte von Portugal bis Norwegen mit den Untersuchungsgebieten für die Bestandsschätzungen von Walen erhoben wurden.
Untersuchungsgebiet von SCANS IV.

Das Untersuchungsgebiet

Das Forschungsgebiet war 1,7 Millionen Quadratkilometer groß. Es reichte von Südnorwegen bis zur Straße von Gibraltar und erstreckt sich bis zu den Gewässern westlich von Schottland sowie in die westliche Ostsee. Über einen Zeitraum von sechs Wochen erfassten acht Teams in Flugzeugen sowie ein Forschungsschiff das Gebiet systematisch entlang festgelegter Linien. Sie suchten entlang dieser sogenannten Transektlinien 75.000 Kilometer ab und erfassten tausende von Walgruppen 17 verschiedener Arten.

Neue Bestandsschätzungen

Die Sichtungsdaten wurden zu Bestandsschätzungen hochgerechnet. Hier die Ergebnisse mit den Konfidenzintervallen in Klammern:

  • Gemeine Delfine, Delphinus delphis – 439.212 (309.153 – 623.987)
  • Schweinswale, Phocoena phocoena – 409.244 (298.194 – 578.505)
  • Gestreifte Delfine, Stenella coeruleoalba – 187.825 (94.244 – 370.355)
  • nicht bestimmte Delfine (D. delphis oder S. coeruleoalba) – 146.567 (95.486 – 221.917)
  • Große Tümmler, Tursiops truncatus – 126.489 (80.626 – 198.440)
  • Weißschnauzendelfine, Lagenorhynchus albirostris – 67.138 (33.978 – 119.349)
  • Weißseitendelfine, Lagenorhynchus acutus – 3.504 (940 – 7.495)

Auch Bartenwale wurden gezählt:

  • Zwergwale, Balaenoptera acutorostrata – 12.000
  • Finnwale, Balaenoptera physalus – 13.000

Die Zahl der tieftauchenden Wale verteilen sich auf 3.314 Grindwale (1.456 – 7.541), 148 Pottwale (102-786) und 4.809 Schnabelwale (3.178 – 7.278) verschiedener Arten. Diese Wale ernähren sich in küstennahen Gewässern hauptsächlich von Tintenfischen. „Die Schätzung für die tieftauchenden Wale ist niedriger als in den früheren Erhebungen“, sagt Gilles, „es ist jedoch, insbesondere für diese Artengruppe, eine Mindestschätzung. Sie ist nicht vollständig mit den früheren Ergebnissen vergleichbar, da wichtige Lebensräume in offshore liegenden Gewässern westlich von Schottland für diese Zählung nicht erfasst werden konnten.“ 

Das Vorkommen des Gemeinen Delfins hat in der südlich von Irland gelegenen Keltischen See sowie im Südwesten des Vereinigten Königreichs und im westlichen Teil des Ärmelkanals zugenommen. Das deutet darauf hin, dass die Population sich nach Norden ausdehnt. Auch die früheren SCANS-Erhebungen hatten diese Tendenz bereits gezeigt. 

Schweinswale

Schweinswalrücken von oben in krauser See.
Ostsee-Schweinswal von oben. Bild: J. Herrmann

Eine Ausdehnung nach Süden zeigt sich für Schweinswale – die am häufigsten im europäischen Atlantik vorkommende Kleinwalart. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass sich die Verlagerung der Schweinswalpopulation von Nordwesten nach Süden in den Jahren 2005 und 2016 auch 2022 fortsetzte. Dabei hat sich die Verbreitung im Ärmelkanal sogar noch weiter ausgedehnt. Die höchsten Dichten beobachteten die Forschenden in der zentralen und südwestlichen Nordsee. In der Nordsee haben sich über die 28 Jahre, die die Forschenden die Zählungen bislang durchführen, die Bestände von Schweinswalen und auch von Weißschnauzendelfinen und Zwergwalen nicht signifikant verändert. Für die ICES Assessment Unit Nordsee liegt die Bestandsschätzung bei 338.918 Tieren (Konfidenzintervall 243.063 – 476.203).

Besorgniserregender Bestand der Ostsee-Schweinswale

Die Schweinswalpopulation in der westlichen Ostsee, der Beltsee und dem südlichen Kattegat geht hingegen zurück. Die Helsinki-Kommission (HELCOM), die regionale Meeresschutzkonvention für die Ostsee, bewertete diese Population vor kurzem als „in einem nicht guten Zustand, da die Beifänge in der Fischerei nicht nachhaltig sind, was die Notwendigkeit von Erhaltungsmaßnahmen und einer weiteren Untersuchung der Belastungen für diese Population unterstreicht.“ 

Langzeitdaten zur Bewertung des Erhaltungszustandes

Gilles stellte die Ergebnisse auf der Sitzung des beratenden ASCOBANS-Ausschusses (Agreement on the Conservation of Small Cetaceans in the Baltic, North East Atlantic, Irish and North Seas) vor. Sie sagte: „Die Ergebnisse der vergangenen drei Jahrzehnte haben unser Wissen zur Verteilung und Häufigkeit der unterschiedlichen Walarten in den europäischen Atlantikgewässern erheblich erweitert. Sie ermöglichen es uns, den Erhaltungszustand der Populationen zu bewerten und in Zusammenhang mit menschengemachten Stressfaktoren zu setzen. Diese groß angelegte Zeitreihe soll in den kommenden Jahrzehnten fortgesetzt werden.“

Zählung von Walen per Flugzeug und vom Schiff

Spezialflugzeug zur Sichtung von Walen mit Hubble-Fenstern an der Seite. Damit lassen sich Bestandsschätzungen erarbeiten.
Per Bubble-Window klarer Blick auf’s Meer. © Foto: Nino Pierantonio

Die Forschenden setzen für die Zählungen speziell für Meeresbeobachtungen geeignete Leichtflugzeuge ein. Aus einer Höhe von 183 Metern und mit einer Geschwindigkeit von 185 Kilometern pro Stunde werden die Wale erfasst. In jedem Flugzeug befindet sich ein Team von drei Forschenden: Die beiden sogenannten Observer erledigen die eigentliche Beobachtungsaufgabe. Dafür sind die Flugzeuge mit runden, konvexen ‚Bubble‘-Fenstern ausgestattet, die den Observern einen ungehinderten Blick auf das Meer unter dem Flugzeug ermöglichen. Die dritte Person erfasst alle von den Beobachtenden übermittelten Daten mit einer Datenerfassungssoftware. Für das Gebiet im Golf von Biskaya setzten die Forschenden ein Forschungsschiff ein, da es für die Flüge zu weit vom Festland entfernt liegt. 

Die SCANS-Reihe

Die Erhebung war eine Zusammenarbeit von Forschenden aus den acht Atlantik-Anrainerstaaten: Dänemark, Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, Spanien, Schweden, Portugal und dem Vereinigten Königreich.

Die Daten der SCANS-Reihe sind eine wichtige Grundlage, um die Auswirkungen von Beifang und anderen zunehmenden anthropogenen Belastungen wie Offshore-Industrie, Schifffahrt und Fischerei auf Walpopulationen zu bewerten. Zudem erleichtert es SCANS, die Forderungen der EU-Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie zur Bewertung des guten Umweltzustands, regionaler Meeresübereinkommen wie OSPAR und HELCOM zu erfüllen. Sie schreiben vor, die Kleinwalbestände in den Meeren regelmäßig zu erfassen und über den Erhaltungszustand der Arten und entsprechende Maßnahmen zu berichten.

Kooperationspartner und -institute:

  • Projektkoordination: Dr. Anita Gilles, Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover
  • Philipp Hammond University of St Andrews, Großbritannien
  • Nikki Taylor, Joint Nature Conservation Committee, Großbritannien 
  • Steve Geelhoed, Wageningen Marine Research, Niederlande 
  • Signe Sveegaard, Aarhus University, Dänemark 
  • Julia Carlström, Swedish Museum of Natural History, Schweden 
  • Matthieu Authier, La Rochelle University, Frankreich 
  • Camilo Saveedra, Spanish Institute of Oceanography, Spanish National Research Council (IEO-CSIC), Spanien 
  • Hélder Araújo, University of Aveiro, ECOMARE & CESAM and Instituto da Conservação da Natureza e das Florestas, Portugal

Dies ist eine Presseinformation der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover, Institut für Terrestrische und Aquatische Wildtierforschung.